Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Bein im Grab
Mama muss alle Einladungen absagen, und auch Gäste will Papa vorläufig keine mehr im Haus. Onkel Linard geht ihm mit seiner Verliebtheit auf die Nerven, und zu Onkel Hardi hat er nach Großpapas Tod »Distanz wegen der Religion«. Seit Heidi aus ihren Ferien zurück ist, geht Papa fast jeden Nachmittag mit ihr reiten. Er kann immer dasselbe Pferd mieten, »zwar nur ein lahmer Gaul«, aber durch Heidis Beziehungen soll sich das bald ändern! Mama zweifelt, »ob es die Freude an der Reiterei ist oder bloß eine Flucht.« So wenigstens erklärt Mama das am Telefon. Ihren Schwestern kann sie alles erzählen, »das tut gut«, sagt sie. Hie und da holt Onkel Fred Papa zu einem Spaziergang aus dem Haus.
Am liebsten zieht sich Papa ins Herrenzimmer zurück. Dort zündet er eine Kerze an und liest. Mama sieht das nicht gern. Bevor sie nach Bern aufbricht, will sie ihn überreden, mitzufahren. Aber Papa sagt bloß: »Vielleicht nächste Woche.« Dasselbe hat er schon letzten Mittwoch gesagt.
»Du machst aus deiner Trauer ja einen regelrechten Kult!«
Nachdem Mama abgefahren ist und ich hinter der verschlossenen Tür keinen Mucks von Papa hören kann, schaue ich durchs Schlüsselloch. Er sitzt am Pult, ich sehe nur gerade seine Hände. Sie bewegen sich nicht … Doch, jetzt scheint Papa etwas aufzuschreiben. Hat er die Agenda vor sich?
Gegen Abend ruft Heidi an. »Esst schon mal mit Elvira«, sagt Papa danach.
Elvira überrascht Koni und mich mit einer Brotrösti.
»Die ist ja noch besser als die von Gertrud!«
»Gertrud? Chi è?«
»Das ist unser erstes Dienstmädchen gewesen. Damals in Stein …«
»Ist sie lieb gewesen?«
»Ich erinnere mich nur noch an ihre schönen Haare und ihre Brotrösti.«
Und Koni kann sich an Gertrud gar nicht mehr erinnern. Elvira streicht ihm übers Haar, »mio caro bimbo.«
»Hast du mich gern?«
»Si, bimbo, tantissimo, siete la mia famiglia!«
»Komm, Elvira, probier das auf Deutsch zu sagen: Sehr gern, ihr seid meine Familie.«
Aber sie traut sich nicht. Stattdessen zählt sie in Mundart auf zehn.
»Und weiter?«
»Undici heißt elf und dodici zwölf und …«
»Nicht zu schnell«, mahne ich Konrad, »so schnell kann sie das doch nicht lernen!«
Als mir Elvira Gutnacht sagen kommt, muss sie sich hinsetzen. Ich lasse nicht locker, bis sie den Satz kann.
»Weißt du«, versichere ich ihr, »wir haben dich auch sehr gern, du gehörst wirklich zu unserer Familie.«
Beim Abschied drückt sie mir einen Kuss auf die Stirn, ich spüre kurz ihre Brüste. Später taste ich unter dem Pyjama mit der flachen Hand meinen Oberkörper ab. Noch immer nichts. Nicht die geringste Wölbung. Dabei gibt es in unserer Klasse schon zwei Mädchen, die einen Büstenhalter tragen. Eine sitzt neuerdings sogar einmal im Monat einfach auf der Bank und turnt nicht mit. Der Lehrer macht zwar ein Kreuz in seinen Kalender, er fragt aber nie Näheres. Ist ja auch grausig, wenn man da unten blutet.
Mama kann den Frühling kaum erwarten. Das sagt sie sogar dem Metzger. Der nickt zustimmend, obwohl er natürlich nicht weiß, weshalb sie so etwas sagt. Aber ich weiß es. Im Frühling kann Mama wieder Tennis spielen, das gibt ihr die Kraft, Papa aufzuheitern. Sie hat mir auch versprochen, Papa werde es in zwei, drei Monaten besser gehen: »Zeit heilt alle Wunden, wir werden es wieder so schön haben wie früher.«
»Flüchtet Papa dann nicht mehr?«
»Wohin soll Papa denn flüchten?«
»Du hast doch das von Flucht gesagt.«
Mama schaut mich erstaunt an. »Aha. Weißt du, damit meint man, dass sich jemand ständig ablenken muss, um keine Probleme mehr zu haben.«
»Aber du hast doch Ablenkung gern?«
»Das ist natürlich etwas anderes. Wenn Papa zum Beispiel heute Abend mit ins Theater kommt, ist das eine Ablenkung, die ihm guttut.
Drei Männer im Schnee
soll ein Heidenspaß sein.«
Als sie weg sind, gehe ich in Papas Herrenzimmer. Seine Agenda ist in der linken Pultschublade. Sie ist überhaupt nicht versteckt, für jeden gut sichtbar liegt sie da. Auf einigen Seiten ist viel geschrieben, auf anderen nichts. Es ist schwierig, Papas Schrift zu lesen … Hier steht über zwei Seiten ein einziger Satz:
Seit Papas Tod bin ich mit einem Bein im Grab
. Augenblicklich lasse ich die Agenda fallen. Als hätte ich mir daran die Finger verbrannt, so ungern hebe ich sie vom Boden auf.
Es läutet zweimal kurz und einmal länger. Elvira! Trotz Hausschlüssel öffnet sie die Tür immer erst, nachdem sie
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