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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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dableiben, als mit Großmama und mir mitzukommen?«
    »Nein, nein.«
    Schon im Entree hören Mama und ich Opernmusik. Je näher wir zum Salon kommen, desto lauter wird die Musik. Die Tür zu Papas Herrenzimmer ist weit offen. Papa liegt im Kerzenlicht mit geschlossenen Augen auf der Couch und gestikuliert mit den Händen, als würde er dirigieren. Mama stellt im Salon sofort den Plattenspieler ab. Völlig erschrocken blickt Papa auf, geradezu entgeistert schaut er in unsere Richtung. Mama macht Licht.
    »Was ist los?«
    »Das fragst du mich?«
    »Ihr seid schon wieder aus Bern zurück?«
    »Wie du siehst.«
    »Ist wohl etwas laut gewesen …«
    Papa erhebt sich, um uns zu begrüßen. »Konrad ist im Bett«, sagt er, »der war vom Schlitteln völlig kaputt.«
    Mama will, dass auch ich Gutnacht sage, »es ist spät. Morgen ist Schule.«
    Bevor ich in den oberen Stock gehe, decke ich im Elternschlafzimmer die Betten auf. Ich forme Mamas Nachthemd und Papas Pyjama zu lustigen Figuren, die Arme haben sie weit ausgebreitet, und als Köpfe hole ich zwei Orangen. In die Mitte des Bettes stelle ich einen Teller für die Schalen.
    Während ich meine Zähne putze, ruft Papa nach Tosca. Jetzt klirrt es kurz, er hängt am Ofen die Hundeleine ab.
    Beim Abstauben ist Elvira das große Foto von Großpapa runtergefallen. Das Glas ist kaputt, der Rahmen entzwei. Mama bringt das auf eine Bombenidee.
    Um vier erwartet mich Mama vor dem Schulhaus. Sie hat bereits den Fotorahmen gekauft und ihn zu Werner, dem Spezialisten, gebracht. Sie staunt, dass ich den nicht kenne. »Das ist der frühere Präsident vom Tennisklub, erinnerst du dich? So ein rundlicher Mann mit einer grauen Glatze …«
    »Gibt es graue Glatzen?«
    »Du weißt schon, was ich meine.«
    Wir lachen beide.
    »Also, das Hobby von diesem Werner sind schöne Schriften, gotische und so. Er ziert das Foto nun mit einem sinnvollen Spruch, den ich mal über einer Todesanzeige entdeckt und ausgeschnitten habe. Hoffentlich sieht es auch wirklich so gediegen aus, wie ich mir das vorstelle …«
    Wunderschön sieht es aus! Und zudem wirkt Großpapa in dem weißen statt schwarzen Rahmen weniger tot.
    Noch hat Papa seine Reitstiefel nicht ausgezogen, da schicken wir ihn ins Herrenzimmer zur Überraschung auf seinem Pult. Wir warten im Salon. Als er – erst nach einer Weile – herauskommt, bleibt er im Türrahmen stehen. Er hat das Geschenk in der Hand und liest den Spruch langsam vor: »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können.«
    Er umarmt Mama. Wieder schaut er auf das Bild.
    »Hast du gewusst, dass die beiden den gleichen Todestag haben?«
    »Wer?«
    »Jean Paul und Papa.«
    »Jean Paul Sartre?«
    »Äch wa!«
    Papas Ausdruck verliert die Freude.
    »Weißt du denn nicht einmal, von wem der Spruch stammt?« »Das ist doch egal, von wem er ist, Mama hat es doch nur gut gemeint …«
    Papa blickt zu mir, als hätte er erst jetzt entdeckt, dass auch ich im Zimmer bin. Er bückt sich zu Mama und gibt ihr ein Munzi, »entschuldige.«

IX
    Es hat sich herausgestellt, dass Elvira über ihren Namen hinaus kaum etwas schreiben kann. So gibt ihr Antonettas Mutter am Donnerstagnachmittag bei uns Privatunterricht. Antonetta kommt dann jeweils nach der Schule mit mir heim, und bis ihre Mutter mit Elvira fertig ist, erledigen wir die Aufgaben.
    Just, bevor wir in den Birchiwald abzweigen, zeigt Antonetta auf ein Auto, das etwas weiter vorne angehalten hat: »Du, das ist doch der neue Wagen von euch!«
    »Klar. Komm beeil dich, wir fahren mit meinen Eltern heim!« Kaum sind wir eingestiegen, schaut Mama vergnügt nach hinten.
    »Was ist? Warum schmunzelst du so?«
    »Nun« – sie blickt fragend zu Papa, der nickt –, »Papi hat heute ein Pferd gekauft.«
    »Nein, wirklich, Papa? Erzähl! Wie sieht es aus? Wie heißt es?« »Eigentlich heißt er Lars, aber das tönt zu fremd, ich werde ihn Mars nennen, denn …«
    »Mars passt ganz zu deinem Wesen«, fährt Mama, nicht ohne Spott in der Stimme, dazwischen. Sie blicken einander kurz an, und ich würde zu gerne wissen, was sie mit diesem stummen Blick gesagt haben.
    »Mag sein. Jedenfalls hat Mars das Feuer eines Vollbluts, obwohl er nur ein Warmblüter ist; der hat es doch zustande gebracht, mich vom Rücken zu werfen!«
    »Was, Sie, Herr Doktor, sind vom Pferd gefallen?«
    »Scho doch«, antwortet Papa. Und da ich denke, Antonetta verstehe sein Walliserdeutsch nicht, sage ich es besser: »Ja, er ist

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