Das Leben der Wünsche
schenkte ihr ein.
Ja, sagte sie gähnend. Sicher.
Würdest du wieder hinfahren wollen? Vielleicht mit mir?
Es wäre dir zu abgelegen.
Und was hast du in den Tagen am meisten genossen?
Ausschlafen zu können.
Die Gegend?
Schön. Viel Wald. Ein kleiner See.
Hat Werners Schwester schon geantwortet?
Nein.
Wie findest du die vier Zentimeter?
Es ist kaum zu glauben. Wunderbar.
Während Jonas ihr von den Kindern berichtete, spielte sie, ohne den Kopf zu heben, mit einem Kugelschreiber und machte ab und zu hm-hm. Das war nicht ungewöhnlich, er hoffte nur, dass es nicht einen ihrer Ausbrüche ankündigte, wenn sie aus dem Nichts heraus mit ihrem Leben unzufrieden war und dann der Welt für zwei oder drei Stunden den Krieg erklärte. Doch sie verzog sich bald ins Bad.
Bedrückt räumte Jonas den Geschirrspüler aus. Ob sie wirklich nur müde war? Wusste sie etwas? Hatte er irgendeinen Fehler gemacht? Aber dann wäre sie wohl längst über ihn hergefallen, Stillhalten in einer solchen Situation passte nicht zu ihr. Vermutlich lag es an der langen Fahrt. Oder sie haderte wieder einmal mit ihrer Arbeit, und die Sache mit Werners Schwester ging ihr zu langsam.
Im Fernsehen erwischte er eine Hintergrundsendung zum Gondelunglück. Über die Kette schicksalhafter Zufälle wurde gesprochen, die zum Absturz geführt hatte, über Materialermüdung, Wartungsmängel, menschliches Versagen, Pech und die Frage, was man daraus für die Zukunft lernen konnte. Jonas sah sich die Sendung bis zum Schluss an. Er horchte, ob aus dem Bad ein Geräusch kam, und rief das SMS-Archiv auf.
Das war sie. Das war nicht ihre Schrift, da stand nichteinmal ihr Name, aber es war sie, es war von ihr, aus ihrem Herzen: Du! lautete eine, einfach nur: Du! Und eine andere: Heute früh wusste ich plötzlich, ich muss zu dir und will zu dir. Aber ich darf nicht . – Und die, die ihm fast am liebsten war, denn sie hatte sie ihm gegen alle sicherheitstechnischen Vorschriften im Flugverkehr geschrieben: Ich bin gerade über dir, ein paar kilometer nur. Er erinnerte sich, wie stolz er gewesen war, als er sie bekommen hatte. Und noch eine: Du gibst mir das gefühl, dass da draußen alles in ordnung ist .
Er trank ein weiteres Glas und dachte nach. Versuchte nachzudenken. Er scheiterte schon im Ansatz.
Seine Mitesser fielen ihm ein. Er klopfte an die Badezimmertür, es war nicht zugesperrt. Er drückte die Tür auf. Helen lag in der Wanne, aus der alles Wasser abgelassen war. Auf ihren Beinen glänzte Schaum. Sie schien ihn anzusehen, doch ihr Blick war leer.
Bist du verrückt? schrie er.
Er packte sie am Kinn und schüttelte sie, kein Widerstand. Er schrie sie an. Schlug sie ins Gesicht. Er kniff sie, rüttelte sie, riss sie an den Haaren. Kein Lebenszeichen.
Er rannte ins Wohnzimmer und rief den Notarzt. Kaum war er in der Lage, den Straßennamen anzugeben, und die Hausnummer fiel ihm erst nach einer halben Ewigkeit ein. Er rannte wieder hinüber, zog Helen aus der Wanne, legte sie auf den glatten Kachelboden und begann mit der Herzdruckmassage. Nach zehnmal Pumpen presste er den Mund auf ihren und blies ihr so viel Luft in die Lungen, wie er konnte, dann setzte er die Herzdruckmassage fort. War das richtig so? Wie oft musste er pumpen, ehe die Atmung wieder an die Reihe kam? Er rief etwas.
Zeit verging, er wusste nicht, wie viel. Er sah sich selbst, als würde er neben sich stehen. Er kniete über Helen, pumpte, hörte sich schreien.
ICH WILL, DASS DU WIEDER AUFWACHST! WACH AUF! KOMM ZURÜCK! KOMM ZURÜCK! KOMM ZU MIR ZURÜCK!
An der Tür läutete jemand Sturm. Jonas ließ die Leute ein und wies in Richtung Badezimmer. Er folgte, langsam, jeden Schritt erwägend wie ein Bergsteiger in extremer Höhe. Er hörte Stimmen, verstand jedoch nicht, was sie einander zuriefen. Halb und halb nahm er die Injektion wahr, die eine Frau Helen gab, die Maske, die ein Mann ihr aufsetzte, doch gleich meinte er abermals, neben sich zu stehen und Zeuge eines Geschehens zu werden, das ihn nur auf unklare Weise betraf. Er hatte das Gefühl, unter ihm bewege sich der Boden, er fahre auf einem Förderband, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren.
Ein Mann sprach mit ihm. Senkte den Kopf. Deutlich erkannte Jonas die geplatzten Blutgefäße auf seiner Nase, die schwarzen Ränder unter den Augen, die Haare, die aus den Nasenlöchern wuchsen, er sah jeden Bartstoppel wie unter einer Lupe. Was der Mann sagte, hörte er nicht.
Sie packten zusammen. Zwei von ihnen
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