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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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telefonierten, sie hatten graue Gesichter. Die Frau hielt ihm eine Tablette hin. Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie schoben ihn aus dem Flur, weg vom Bad, ins Wohnzimmer.
     
    Er stand von der Couch auf, um nach Tom und Chris zu sehen. Einer der Männer mit den roten Jacken wollte ihn zurückhalten. Jonas deutete auf das Kinderzimmer. Der Mann fasste ihn am Arm.
    Die Kinder, brachte Jonas hervor.
    Er stand da. Nach einer Weile: keine Hand mehr an seinem Arm.
    Sie schliefen. Er konnte sie nicht ansehen, er ging wieder hinaus. Die Frau stand vor ihm.
    Haben Sie jemanden, der Sie unterstützen kann?
    Unterstützen.
    Ihnen helfen! Kann jemand kommen?
    Kommen. Hierher?
    Wie heißen Ihre Kinder?
    Tom. Und Chris.
    Sie können mit Tom und Chris nicht allein bleiben!
    Ich weiß nicht.
    Nehmen Sie die Tablette!
    Helens. Seine Stimme versagte. Ihre Eltern.
    Aber die sind auch betroffen. Ich meinte jemanden, der Ihnen jetzt helfen kann. Ihnen und Tom und Chris.
    Mir wären ihre Eltern am liebsten.
    Sie sollen kommen?
    Ich kann nicht. Mit ihnen reden.
    Das machen wir. Geben Sie mir die Nummer.
    Jonas reichte der Frau sein Mobiltelefon. Das Gespräch wollte er nicht mit anhören. Er ging in das kleine Zimmer, das sie als Büro nutzten und in dem Helen begonnen hatte, Kataloge zu stapeln, die sie auf die Arbeit in der Modewelt vorbereiten sollten. Angesehen hatte sie keinen, soweit er wusste, sie hatte lieber Lara Croft in den Kampf geschickt.
    Er spielte eine Partie Minesweeper nach der anderen. Gleichmäßig fraß sich der Cursor durch das Feld. Jonas dachte an nichts, er klickte und klickte und klickte. Bei jeder Partie erwischte er bald eine Bombe und musste vonvorn anfangen. Wenn er sich seiner selbst bewusst wurde, merkte er, dass er Fieber hatte. Er hustete, davon bekam er Schluckauf. Beides nahm er kaum wahr.
    So vertieft war er ins Nichts, dass er, als er jemanden neben sich stehen sah, nicht wusste, wer es war und wie lange dieser Jemand da stand. Er blickte der Person ins Gesicht. Es war Helen. Eine Sekunde, zwei, drei Sekunden lang war es Helen, dann war es Lea, ihre Mutter.
    Ohne mit ihr ein Wort zu wechseln, ging er hinter ihr hinaus. Frank saß in Helens Schaukelstuhl. Er war grün im Gesicht, sein Mund stand offen, er zitterte. Mit seiner Korpulenz und seiner Größe wirkte er gewöhnlich für jedes Zimmer überdimensioniert, doch nun rieb er seine flatternden Riesenhände und saß eingefallen da wie ein Greis. Die Männer und Frauen in Weiß sprachen, schrieben etwas auf einen Zettel und gingen.
    Auf dem Tisch stand kalter Tee. Woher er kam, blieb unklar. Keiner wollte ihn. Jemand hatte einen halb gegessenen Hamburger liegen gelassen. Jonas warf ihn weg.
    Die Schwiegereltern starrten vor sich hin wie Menschen in einem Zwischenreich, das sie nicht verstanden. Niemand fragte etwas. Jonas erzählte, was sie gegessen und getrunken, was sie geredet hatten, doch er merkte, sie hörten nicht zu, und er wusste auch nicht, warum er das erzählte und wann er damit angefangen hatte.
    Als es läutete, fiel Jonas beinahe die Schnapskaraffe aus der Hand, an der er sich gerade bedienen wollte. Er führte den Amtsarzt ins Bad, wo Helen noch immer auf dem nun von den Schuhen der Rettungsleute schmutzigen Kachelboden lag. Der Arzt drehte sie auf die Seite, um die Totenflecken festzustellen. Er schrieb etwas auf ein Formular. Einen Abschiedsgruß hörte Jonas nicht.
    Er blickte auf Helens Körper hinab. Ihre Augen hatte jemand zugedrückt. Oft hieß es, Tote sähen aus wie Schlafende. Helen sah nicht aus, als schliefe sie. Helen sah tot aus.
    Durch einen Filter hindurch wurde ihm bewusst, dass das hier das Grauenhafteste war, was er je erlebt hatte.
    Ob er ein Foto machen sollte? Ein Impuls ließ ihn in den Flur gehen, wo die Kamera in seiner Jacke steckte, aber er kam rechtzeitig zur Vernunft. Ein Mensch hatte das Recht, weder beim Sterben noch im Tod fotografiert zu werden. Selbst wenn es sich um ein Bild handelte, das nie jemand anderes als der hinterbliebene Partner sehen würde.
    Lea verschwand im Kinderzimmer. Er scrollte durch die Adressliste seines Telefons. Wen konnte er um diese Zeit anrufen? Wen wollte er anrufen? Marie natürlich, nur sie. Doch die lag neben Apok. Oder bei dem Kleinen. Er erreichte sie bestimmt nicht. Und durfte sie nicht erreichen, nicht einmal jetzt.
    Aber wen sonst? Werner? Jonas versuchte es. Wie erwartet hörte er nur die alberne Schützengraben-Ansage in der Mailbox. Anne nahm starke

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