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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hatte, saß jemand. Der Mann stand auf, ging den Weg, den Jonas gerade gegangen war, blickte in alle Richtungen. Der Mann sah aus wie Jonas.
    Jonas lief Richtung Auto. Der Mann folgte ihm. Er lief genau da, wo Jonas fünf Sekunden zuvor gelaufen war. Er tat das Gleiche, schaute, wie Jonas geschaut haben musste. Jonas hob den Arm und winkte. Fünf Sekunden später hob der Mann den Arm und winkte.
    Jonas blieb stehen. Der Mann kam auf ihn zu. Ging in ihn hinein.

13
    Apok hat heute seinen freien Abend, sagte Marie. Kommst du zu mir?
    Jonas sah Wolf aus dem Lift treten, legte den Hörer an das andere Ohr und sagte leise:
    Du willst, dass ich dich besuche, während dein Mann ausgeht?
    Das ist eine andere Situation als vorgestern, diese kann ich einschätzen. Er trifft seine Cousins, ich weiß, wann er da nach Hause kommt. Natürlich ist ein Risiko dabei. Im schlimmsten Fall kenne ich dich aus der Arbeit. Obwohl ich lieber vermeiden würde, dass er dich jemals zu Gesicht bekommt.
    Wenn er uns im Bett erwischt, könnte es ihn möglicherweise nicht mehr interessieren, woher wir uns kennen.
    Entweder das, oder wir sehen uns noch eine Woche nicht! Komm schon, sag ja.
    Das heißt also: Vorgestern hast du nicht darauf vertraut, dass ich die Situation einschätzen kann. Wolf kommt näher, wir müssen gleich aufhören. Du aber möchtest, dass ich dir glaube, du könntest die Situation einschätzen. Habe ich das korrekt dargestellt?
    Tadellos! Kolossal! Nichts daran auszusetzen. Er geht um halb acht. Sagen wir acht?
    So machen wir das, sagte Jonas in geschäftlichem Ton, vielen Dank für Ihren Anruf!
     
    Er holte die Kinder ab, die sanfter und umgänglicher waren als gewöhnlich. Nachdem er sie umgezogen hatte, schlug er ihnen vor, gemeinsam etwas zu unternehmen, aber sie wollten lieber mit Astor spielen. Er legte sich ins Bett und hatte eine halbe Stunde Ruhe, bis sie wieder ankamen, in jeder Hand eine andere Absurdität, Flaschenöffner, eine leere Milchpackung, Helens Liebeskugeln, eine Kerze, die sie mit ihren kleinen Fingern nahezu unbrauchbar gemacht hatten.
    Darf ich zu dir? fragte Tom.
    Ich will auch! rief Chris.
    Er rückte zur Seite, deckte sie zu und streichelte einen Kopf rechts, einen Kopf links. Nach einer Weile richtete sich Tom auf. Gespannt, beinahe suchend blickte er Jonas an.
    Papi, bist du echt?
    Ja, Tom, ich bin echt.
    Er streichelte sie weiter. Als Erster hatte Chris genug. Er sprang auf und zog seinen Bruder an der Hand aus dem Bett.
    Moment, hiergeblieben! rief Jonas. Chris, stell dich an den Türstock!
    Was? Wohin?
    Dort hinüber! Wo wir dich immer messen!
    Es dauerte einige Zeit, bis der Junge still stand und Jonas mit dem Marker den Strich über seinem Kopf machen konnte. Chris trat zur Seite.
    Hab ich doch richtig gesehen! rief Jonas. Schau nur, der alte Strich und der neue, sie liegen vier Zentimeter auseinander! Du bist gewachsen, junger Mann, und zwar ein gewaltiges Stück!
    Ist das gut?
    Das ist sehr gut! Wachsen ist immer gut!
    Dann will ich noch mehr wachsen!
    Tom riss das Tipp-Kick aus dem Regal, Chris stürzte sich auf ihn, und während sich die zwei balgten, rief Jonas Helen an.
    Bist du sicher? fragte sie. Hat er sich nicht etwa auf die Zehenspitzen gestellt?
    Ich habe aufgepasst. Außerdem merkt man es mit bloßem Auge. Sie wachsen eben schubweise, und er hatte kürzlich eindeutig einen Schub!
    Sollte diese Teetherapie also doch helfen? Ich dachte es mir schon, ich –
    An der wird es liegen, ja, sagte er.
    Plötzlich hatte er viel Zeit. Er öffnete eine Flasche Rotwein und machte einen Lammbraten. Ihm fiel ein, dass der Nachbar Lamm mochte, also ging er hinüber und klingelte. Joey wischte sich über die Augen und bedankte sich leise.
    In die Euphorie über die vier Zentimeter drangen Gedanken über den bevorstehenden Abend. Er freute sich, zugleich hatte er Angst. Er wusste nicht, was mit ihm los war. Wenn er sich Marie nur vorstellte, wäre er am liebsten zu ihr geflogen. Wenn ihm Helen einfiel, schüttelte er betroffen den Kopf. Gerade weil er wusste, wie wenig dazu notwendig war, um wieder eine glückliche Ehe zu führen. Er musste nur einen Schritt zurück machen. Nur den Blickwinkel verändern. Und vielleicht wäre das ja auch das Beste. Für alle.
    Je inniger und vertrauter er mit Marie wurde, desto schwerer konnte er sich ein Leben ohne sie vorstellen. Aber was war die letzte Konsequenz daraus? Eine alleinerziehende Mutter. Seine Söhne würden fragen, wo ihrVater war. Und Jonas

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