Das Leben der Wünsche
Bleib nicht hier! Soll ich mitkommen? Ich hole meine Jacke. Bin gleich zurück!
Werner lief davon. Jonas sah seine riesenhaften Füße in den Flip-Flops, die nach hinten auszuschlagen schienen.
Den Wagen ließ er in der Tiefgarage. Er setzte den Fuß in jedes zweite Karo auf dem Bürgersteig. Um etwas in den Händen zu halten, kaufte er sich Eis. Es schmeckte künstlich.Er bot es Kindern an. Sie musterten ihn misstrauisch und warfen einander warnende Blicke zu. Mit spitzen Fingern ließ er es in eine stinkende Mülltonne fallen.
Er fand sich im Park wieder. Er kam zu dem Brunnen, wo ihn der Fremde angesprochen hatte. Die Bank war frei, er setzte sich. Er hatte das Gefühl, bald einen Sonnenstich zu bekommen. Einem mobilen Händler kaufte er ein Kopftuch ab, das er sich sogleich umband.
Er betrachtete die Fotos im Speicher seiner Kamera. Vergeblich suchte er nach einem von Helen. Er fand eines von Joey, an das er sich nicht erinnerte, der Nachbar musste sich selbst fotografiert haben.
Momente. Solche und solche gab es, schöne und miserable und gleichgültige. Es gab Orgasmen, und es gab Folter. Hoffentlich hörte der letzte Moment auf. Hoffentlich hatte Helens letzter Moment sofort aufgehört. Oder besser, in ihrer Wahrnehmung gar nicht stattgefunden. Hoffentlich. Bitte.
Er stellte auf Aufnahme und hielt den Apparat nach links, drückte ab, nach rechts, drückte ab. Er zoomte die Wiese heran und drückte ab.
Das beste der drei Bilder war das erste. Viele Menschen, in ihrer Bewegung festgefroren. Eine Sekunde, gerade vorübergegangen, unbeobachtet geblieben, wertlos geworden, eine von Milliarden und Abermilliarden.
17
Die automatische Tür schnarrte zur Seite. Auf halbem Weg zum Auto blieb Anne stehen. Er schob die Tankquittung in die Brieftasche.
Wann genau ist es eigentlich passiert? fragte sie.
Vor achtunddreißig Stunden und zwölf Minuten habe ich es gemerkt.
Du bist sehr stark.
Seltsam, und dann ist es wieder, als wäre es nicht geschehen.
Wie hat Marie reagiert?
Wie sollte sie reagieren? Was meinst du? Gefreut hat sie sich nicht! Entschuldige, ich wollte nicht ruppig sein.
Schon gut. Triffst du sie?
Heute jedenfalls nicht.
Ein Lastwagen fuhr brausend an. Sie machten Platz. Der Fahrer dankte ihnen mit der Hand. Weder Anne noch Jonas reagierten. Hinter der Scheibe las Jonas auf einem Schild den Namen des Fahrers und vergaß ihn sofort wieder.
Das ändert vieles, nicht wahr? fragte Anne.
Das ändert alles. Was meinst du denn?
Marie und dich.
In der Hosentasche spielte er mit dem Autoschlüssel. Er musste daran denken, dass Helen ihn auch berührt hatte, tausende Male. Anne stand eine Spur zu knapp vor ihm, die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen. Auf eineirritierende Art wurde ihm bewusst, wie schön sie war, wie zerbrechlich, und wie gut er sie kannte. Und er dachte daran, dass ein Teil in ihm immer berühren wollte, auch wenn er nicht berühren durfte.
Ich weiß, worauf du hinauswillst. Aber so weit kann ich nicht denken. Achtunddreißig Stunden. Zuweilen habe ich das Gefühl, durch einen Traum zu laufen. Aber das ist echt, das bleibt jetzt so, unwiderruflich.
Sprichst du viel mit Tom und Chris?
Sie fragen, wann sie wieder kommt. Angenehm ist es nicht zu antworten. Diese Tabletten, die ich da habe … mit denen geht es. Wollte so was ja nie nehmen. Haben aber ihre Berechtigung, das muss ich zugeben.
Erinnerst du dich noch an die Nacht, nachdem ich beim Arzt gewesen war? Wie du mit Pizza gekommen und bis drei Uhr früh geblieben bist? Und Helen sauer war, weil sie nicht wusste, was los war?
Keine schöne Nacht.
Irgendwie doch. Du warst so präsent. Viel präsenter als jemals zu unserer Zeit.
Jonas ließ den Blick schweifen. Männer, die ihre Scheiben reinigten. Ein kläffender Hund. Es roch nach Benzin und Öl. Regenwolken schoben sich über die Stadt.
Wollen wir? fragte er.
Ich wollte eigentlich nur sagen, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du etwas brauchst. Auch in der Nacht.
Das könnte man missverstehen, was du da sagst.
Nein, du verstehst es nicht falsch, sagte Anne.
Er schaute weg.
Wenn ich jemals an den Everest käme, weißt du, was ich sagen würde? Diesem Berg widme ich all meine Berge.
Jonas, das verstehe ich nicht.
Ich auch nicht, und dennoch weiß ich, dass dieser Satz richtig ist.
Dann wird er auch etwas bedeuten.
Wieso steigen wir eigentlich nicht wieder ein? fragte Jonas.
Weil ich nicht sicher bin, ob ich nicht doch noch zur Toilette
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