Das Leben der Wünsche
Medikamente und hatte das Telefon nachts abgedreht. Er rief Nina an, sie meldete sich nicht.
Als Nächstes kamen die Leute, die den Leichnam abholten. Wenn Jonas es recht verstand, brachten sie Helen in die Pathologie, um die Todesursache herauszufinden. Die Männer hatten ausdruckslose Gesichter, ihr Geist schien weit weg. Sie verfrachteten Helen in einen Zinnsarg. Als sie ihn anhoben, taten sie es ungeschickt, die einen waren langsamer als die anderen, und man hörte, wie Helens Kopf innen gegen die Wand prallte. Einer derTräger warf seinem Hintermann einen vorwurfsvollen Blick zu. Lea kniff die Augen zusammen. Irgendjemand stöhnte. Jonas selbst.
Jonas sprang auf die Couch und schlief ein.
16
Mit der furchtbaren Wucht plötzlicher Erkenntnis riss ihn das Fiepen des Handyalarms aus dem Schlaf. Automatisch zog er sich an, um ins Büro zu gehen.
Ich bleibe hier, bei den Jungen, sagte Lea, die ihm auf dem Flur entgegenkam.
Ein Albtraum, dachte er, das ist ein Albtraum.
Kannst du … Ich muss es ihnen sagen.
Das mache ich, wenn du willst.
Ich bin ihr Vater, ich sollte …
Ich kenne ein Märchen, mit dem man den Tod Nahestehender Kindern erklärt.
Erzähl mir das Märchen.
Da komme ich mir dumm vor, sagte sie, es erklärt den Tod ja nur für Kinder.
Als ob es da etwas zu erklären gäbe.
Niemand an den Schreibtischen beachtete ihn, so fiel sein zerstörtes Gesicht nicht auf. Das Blaulicht blinkte, und er tat so, als sei er auf einen Ferienprospekt konzentriert. In Wahrheit starrte er in eine abgründige Leere, aus der ihn manchmal äußere Reize weckten, die er gleich vergaß.
Nina warf ihm Blicke zu. Er schaute auf die Uhr, ob es endlich Zeit wäre, Marie anrufen zu können. Er wusste, er konnte nicht aussprechen, was passiert war, also schrieb er ihr eine SMS. Eine Minute darauf läutete das Handy.
WAS?
Ja, krächzte er.
Er erkannte seine Stimme nicht. Er merkte, wie weh ihm Maries Reaktion tat. Dass jemand anderes so entsetzt war, bedeutete, dass er recht hatte, wenn er es unerträglich fand.
WAS? WAS?
Jonas konnte nicht sprechen. Er meinte, in tiefes dunkles Blau gezogen zu werden. Er war erfüllt von schlechtem Gewissen, von Schuldgefühlen, von Angst.
Vor sich auf dem Schreibtisch sah er eine sinnlose Bleistiftzeichnung, die er gemacht haben musste, an die er sich nicht mehr erinnerte und von der er den Blick nicht abwenden konnte. Auf dem Flur ertönte Lärm, irgendetwas war los.
Wahrscheinlich Herz, brachte er hervor.
Stille. Wie lange, wusste er nicht. Auf Krücken kam Severin zu ihm gehumpelt, zwischen den Fingern hielt er einen schwarzen Filzstift. Jonas schrieb einen Spruch neben die derben Zeichnungen der Kollegen auf den Gips an Severins Bein, ohne zu fragen, wie das Missgeschick passiert war.
Mein Gott, sagte Marie.
Mit dem Finger fuhr Jonas die Linien der Bleistiftzeichnung vor ihm nach. Hoch und hinunter, rechts, zur Mitte, links.
Die Außenstunde verbrachte er nicht in dem kleinen Park hinter der Agentur, sondern auf einer Bank zwei Straßen weiter, wo er keinen der Kollegen traf. Er hatte Hunger, aber er wusste, er würde nach dem ersten Bissen alles stehen lassen. Hinter seiner Stirn knackte es wie unter Wasser. Er hörte ein metallisches Summen.
Es tut mir so leid. Mir fällt nichts anderes ein als das. Ich habe angst, etwas unpassendes zu sagen. Ich bin für dich da, du weißt das, ja? Wollen wir uns gleich treffen?
Neben ihm stand jemand. Er hatte den verrückten Gedanken, es könnte Marie sein. Einige Sekunden zwinkerte er gegen die Sonne, bis er Werner erkannte.
Was ist mit dir los? Ich suche dich überall!
Jonas schloss die Augen, öffnete sie wieder. Das Licht erschien ihm anders. Dann wieder normal.
Ich kam ja schon einmal darauf zu sprechen. Du könntest mir vielleicht einen Gefallen tun. Ich würde gern mit dir darüber reden, aber nicht hier. Hast du am Abend Zeit?
Werner, ich kann heute nicht.
Er wollte es ihm erzählen, doch wieder schaffte er es nicht, die Worte auszusprechen, er musste sie auf einen Zettel schreiben, den er in einer Jackentasche fand. Er sah Werner nicht an, als er ihm das Papier gab, er ließ es nicht los und zerriss es, nachdem Werner sich neben ihn auf die Bank hatte fallen lassen, die unter seinem Gewicht erzitterte. Mit aller Willenskraft hielt Jonas die Tränen zurück. Werners Augen waren glasig. Sein Mund schnappte auf und zu.
Du gehst sofort nach Hause!
Zu Hause ist sie … zu Hause ist es passiert.
Geh irgendwohin!
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