Das Leben der Wünsche
unauffällig eine zweite, um sicherzugehen. Er sah Lea von der Seite an. Sie hielt sich am Haltegriff über der Tür fest und starrte geradeaus auf die Straße. Er war wohl nicht der Einzige, der etwas genommen hatte, im Gegenteil, vermutlich hatten sie sich alle drei am Spiegelschrank bedient.
Wie sie zum Friedhof gekommen waren, wie er den Parkplatz gefunden hatte, er wusste es nicht. Seine Gedanken verschwanden in einen halb bewussten Bereich,zu dem er nur sporadisch Kontakt hielt, sie verselbstständigten sich, sein Wille zog sich zurück.
Sie gerieten in fremde Prozessionen. Ab und an wurde er unwirklicher Details gewahr. Frauen mit zu großen Hüten, Frauen mit grimmigen Gesichtern, Männer mit dem Ausdruck eines Leidens, das sie nicht verstanden. Die ganze Welt war gestorben.
Unter seinen Schuhen knirschte Kies. Ringsum murmelten Fremde, es klang wie eine närrische Litanei. Er versuchte, an Marie zu denken, an wertvolle Erlebnisse mit ihr, doch nun forderte Helen Platz in ihm, mehr als alles andere, Helen, aber auch das Lochgesicht, das vor ihm aufklaffte.
Als er am Grab ankam, über dem das dunkle Edelholz des Sarges karg in der Sonne glänzte, dachte es plötzlich in ihm:
Entschuldige bitte, dass ich dir untreu gewesen bin.
Unwillkürlich blickte er sich um, so überrascht war er von dieser Stimme. Aber sie war in seinem Kopf. Er hatte das Gefühl, nun fortsetzen zu müssen, er dachte:
Entschuldige bitte, dass ich eine andere geliebt habe, aber –
Und die Stimme half ihm: – aber entschuldige bitte, dass ich nicht genau weiß, wofür ich mich entschuldigen muss.
Und nun dachten sie beide gemeinsam:
Es war eben so. Ich habe dich lieb gehabt. So sind die Dinge. Jemanden lieb zu haben ist nicht gerade wenig. Aber vielleicht ist es zuwenig.
Jede Liebe geht einmal zu Ende, dachte er. Wahrscheinlich. Eine neue kommt. Mit Glück.
Jemand gab ihm die Hand. Wer?
Offen bleibt, wer von den beiden früher vom Weg abkommt, dachte er. Wir lieben, gewöhnen uns, lieben anders, lieben weniger, und – da ist plötzlich ein Gefühl, die Möglichkeit eines Gefühls, ein Echo aus lange vergangener Zeit, ein seliges Sehnen, und ich frage dich: Bin ich schuld? Ist man schuld an Gefühlen? Du hättest sicher gesagt: Man muss sich ja nicht darauf einlassen.
Danke.
Vielen Dank.
Man muss sich nicht darauf einlassen, darauf entgegne ich, erstens, wie soll das funktionieren, und vor allem zweitens, was nützt es mir? Zu wissen, dass ich eigentlich jemand anderen geliebt hätte, aber mich nicht darauf eingelassen habe und eben bei dir geblieben bin – warum bei dir geblieben bin? Aus Treue? Bedeutet Treue, bei jemandem zu bleiben, auch wenn man ihn nicht mehr liebt? Bedeutet Treue, seine wahren Gefühle zu unterdrücken, damit etwas, was einmal gewesen ist, nach außen hin weiterschimmern darf? Bedeutet Treue, einen Moment seines Lebens zu fotografieren und dieses Bild sein Leben lang anzubeten?
Irgendjemand legte ihm die Hand auf die Schulter, er sollte etwas tun, doch Jonas verstand nicht, was. Der Mann vor ihm bewegte die Lippen und starrte ihn dabei seltsam lächelnd an, sodass Jonas ihn in einem Reflex von sich wegstieß. Blicke Umstehender, die er nicht zu deuten verstand. Etwas Falsches? Getan?
Ich sage es trotzdem: Entschuldige bitte. Ich habe dich lieb.
Und dann musste er weinen.
Der Mann vor ihm schlug über seinem Kopf ein Kreuz. Jonas wischte sich die Augen. Mit einem Stofftaschentuch,das ihm Lea für den Anlass aufgedrängt hatte, machte er sich die Nase frei.
Er sah sich um. Vierzig Leute. Mehr. Fünfzig, vielleicht sechzig. Rund um den Sarg leuchteten Blumen, viel mehr, als Jonas erwartet hatte. Die Kränze, groß wie Wagenräder, waren von unerbittlicher Deutlichkeit.
Der Priester hielt eine lange Rede. Vom Inhalt erfasste Jonas wenig. Dröhnend flog ein Sportflugzeug über sie hinweg. Die Leute hoben die Köpfe, schüttelten sie ungnädig, als ob sie miteinander in ihrer Ablehnung wetteiferten, sahen wieder den Priester an, der eine Pause hatte machen müssen. Jonas beobachtete sie, dachte daran, dass er jener Frau gern ihren störrischen Hut wegnehmen und wie ein Frisbee über den Friedhof segeln lassen würde. Dachte daran, dass der Mann ihm gegenüber aussah wie sein erster Boss. Daran, dass er einkaufen musste.
Jemand hustete. Er hörte nicht mehr auf zu husten. Es war so durchdringend, dass sich die Leute umdrehten. Derjenige merkte es und entfernte sich.
Von Zeit zu Zeit wurde Jonas
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