Das Leben der Wünsche
wusste, wie es war, mit ihr im Halbdunkel eines Kinosaals eingeschmuggelten Sekt zu trinken. Er kannte ihren Gesichtsausdruck, wenn etwas sie freudig überraschte, wenn etwas sie ärgerte, wenn etwas ihr Mitgefühl erregte, wenn sie zum Höhepunkt kam. Er wusste, wie sie sprach, wie sie aß, wie sie lachte, wie sie liebte. Aber er wusste nicht, wie es war, mit ihr zusammen einzuschlafen und neben ihr aufzuwachen.
20
Als am Tag des Begräbnisses der alte Porzellanwecker neben seinem Bett schrillte, brach aus Jonas hilflose Wut hervor. Wecker, Nachttischlampe, Bücher, Ohrstöpsel, Kaffeetasse, alles in seiner Reichweite flog durchs Zimmer, prallte gegen die Wand oder den Schrank, einiges zerbrach klirrend. Er blieb liegen, bis der Aufruhr in ihm verklungen war. Er sah das Loch im Gesicht des Tankwarts klaffen. Mit einem Ruck setzte er sich auf.
Er hatte eine SMS von Marie. Ich bin bei dir. Und einen Anruf von Anne, die ihm alles Gute wünschte.
Mitten auf dem Flur standen Franks Lackschuhe, die dieser hier am Abend achtlos abgestellt hatte. Hinter der Milchglasscheibe zur Küche sah Jonas Leas Gestalt. Gedämpft hörte er die Stimmen der Kinder. Im Bad war die Luft schwer und feucht, es roch nach den fremden Menschen, die an diesem Morgen schon geduscht hatten, nach Körperwasser und Deodorant. Er blickte in die Badewanne und schaute schnell weg.
Aus dem Spiegelschrank nahm er eine von Helens Beruhigungstabletten. In diesem Punkt hatte sie interessanterweise nicht auf Naturmedizin vertraut, diese Pillen stammten vom Psychiater und wirkten.
Lea war bereits fertig angezogen. In ihrem neuen Hosenanzug wanderte sie durch das Wohnzimmer wie ein böser schwarzer Geist. Die Kinder hatten kakaoverschmierte Gesichter und trugen Spielplatzkleidung.Das Frühstücksgeschirr war ab-, das Wohnzimmer aufgeräumt, in der Küche gurgelte der Geschirrspüler.
Jonas rührte in seiner Tasse. Der Kaffee war viel zu schwach. An der Zeitung schwärzte er sich die Finger. Frank saß in der Ecke, Kopfhörer auf den haarigen Elefantenohren, und dirigierte mit dem Zeigefinger zur Musik. Die Kinder spielten ungewöhnlich leise mit einem Puzzle, hoffentlich hatte Lea, die oft gereizt war, sie nicht hart angefasst. Den ganzen Abend hatten sie erwogen, ob sie Tom und Chris zum Begräbnis mitnehmen sollten, und sich schließlich dagegen entschieden.
Unschlüssig ging Jonas umher, er fand keinen Platz für sich. Er machte die Katzenkiste sauber und füllte den Futternapf. Wild stürzte sich Astor darauf. Jonas streichelte ihn, der Kater stellte den Schweif auf.
Endlich kam die Babysitterin. Nicht Irina, die tagsüber keine Zeit hatte, sondern eine dicke, etwas überheblich blickende Studentin mit sechseckigem Brillenrahmen, die sich schon öfter um die Jungen gekümmert hatte. Helen hatte immer ihre Nummer gewählt, Jonas die von Irina. Das Mädchen trug feierliches Schwarz, als sollte es auf den Friedhof mitkommen.
Auf der Straße war es heiß. Über den Bergen schoben sich Gewitterwolken ineinander. In der Luft lag der Geruch von verschmortem Gummi, für den einige junge Männer verantwortlich waren, die hier ihre Sportwagen vorführten. In den Hecken zirpten Insekten.
Gerade wollte Jonas einsteigen, da hörte er jemanden rufen. Joey kam ihm nachgelaufen. Er drückte ihm ein Kuvert mit offenkundig selbst gemaltem schwarzem Rahmen in die Hand. Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken, verdrehte die Augen Richtung Himmel und machte keine Anstalten wegzugehen, also sollte Jonas das Kuvert wohl an Ort und Stelle öffnen.
Es enthielt eine Karte. An den Rändern waren schmutzige Fingerabdrücke zu sehen. In kindlicher Schrift stand da: Es tut mir sehr leid ich werde dein Fräund sein und die Kinder Dein Joey.
Als Jonas ihm verlegen die Hand schütteln wollte, schnaubte Joey auf und lief ins Haus.
Was ist denn das für einer? fragte Lea.
Jonas fuhr. Geredet wurde kein Wort. Im Radio lief Pop, dann folgte die Wetteransage, das Gewitter würde vorbeiziehen. Werbejingles. Frank bekam einen bellenden Hustenanfall. Nachdem er sich beruhigt hatte, tippte er Jonas auf die Schulter. Er streckte einen Geldschein nach vorne.
Was ist das?
Benzingeld.
Frank begann wieder zu husten. Jonas hielt es nicht einmal für angebracht, den Kopf zu schütteln, er ließ Frank den Schein halten, bis er ihn irgendwann zurückzog.
Allmählich merkte Jonas an einer angenehm müden Gelassenheit, dass die Tablette zu wirken begonnen hatte. Dennoch schluckte er
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