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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Auto zu verbringen. Solche spontanen Unternehmungen, bei denen man nach einigen Stunden merkte, dass man sich damit keinen Gefallen getan hatte, waren typisch für Helen gewesen. Anfangs hatte er alle diese Eingebungen großartig gefunden. Mit der Zeit nur noch jede zweite.
    Er kam an einen See. Keine Wolke weit und breit, nur Vögel und Flugzeuge zogen über den Himmel. Die Luft war mild, Menschen waren nicht zu sehen.
    Er parkte den Wagen im Schatten hoher Linden und setzte sich auf eine alte, mit Inschriften und Zeichnungen dicht bedeckte Holzbank am Wasser. Die Bilder der vergangenen Tage kamen immer wieder zurück. Besonders das Loch im Gesicht des Kassiers wurde er nicht los. Es war weit entsetzlicher als alles, was er je im Film gesehen hatte. Was da aufklaffte, war ein Tor zum Grauen selbst. Man konnte das Grauen vor sich haben, es betrachten, sich davor ekeln, sich davor fürchten, vor allem aber konnte man es sehen und verstehen, dass es existierte und nicht nur eine Geschichte aus Büchern und Zeitungen war. Gegen dieses Loch war der Anblick Helens in der Wanne noch etwas, mit dem man sich vielleicht abfinden konnte.
    Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Marie hob nicht ab. Hoffentlich war alles in Ordnung, hoffentlich hatte sie nicht in einem Anfall von Hysterie oder Verzweiflung mit Apok reinen Tisch gemacht.
    Wie absurd! Davor musste er ja keine Angst mehr haben! Apok würde nicht Helen anrufen, um ihr alles zu erzählen. Das Geständnis seiner Geliebten würde nicht seine Ehe ruinieren, denn die gab es nicht mehr. Es bestand noch die Gefahr, der eifersüchtige Ehemann könnte vorbeikommen und eine Szene machen. Für sehr wahrscheinlich hielt Jonas das jedoch nicht. Der kleine dünne Russe! Der eine halbe Stunde brauchte, um sich für die passenden Socken zu entscheiden. Nun hatte nur mehr Marie etwas zu verlieren.
    Was denn eigentlich? Wen? Einen Mann, der vorgekochtes Essen seiner Mutter in der Tiefkühltruhe einfror. Einen, der vor Spinnen Angst hatte, Sport für brutal hielt und Reizwäsche für sündig. Einen, der es ihr nicht mit dem Mund machen wollte, weil ihm das als unmännlich galt. Mit dem sie aber ein Kind hatte, warum auch immer dieses Kind hatte, das vor allem ihm ähnlich sah und ihm ähnlich war, unhübsch und temperamentlos.
     
    Hat Apok das Haus gekauft?
    Bekam den Kredit nicht bewilligt! Es war alles bis ins Detail vorbereitet, und plötzlich wollte die Bank nichts mehr davon wissen!
    Und wie geht es dir damit?
    Ausgezeichnet. Ebensogut hätte ich noch einmal schwanger werden können. Von Apok, meine ich. Ich bin in einer schwierigen Situation, ich finde keine Lösung, ich weiß nicht, was ich will, doch ich weiß: das will ich nicht.
    Jonas setzte sich auf einen Stapel Brennholz. In der freien Hand schüttelte er einige Steine. Er suchte nach dem flachsten und schoss ihn auf den See hinaus.
    Wieso erzähle ich dir das eigentlich jetzt? fragte sie. Ist alles in Ordnung? Wann wollen wir uns treffen?
    Jonas sagte nichts. Er warf alle Steine, die er neben sich auf ein Holzscheit gelegt hatte, auf einmal ins Wasser. Am Ufer trat er auf die lehmige Hülle eines zerrissenen Fußballs. Daneben lag ein toter Vogel.
    Hallo?
    Er räusperte sich. Es geht nicht, Marie. Nicht heute.
    Und wieso nicht?
    Es geht eben nicht.
    Hast du ein schlechtes Gewissen.
    Ich weiß nicht. Etwas in der Art, ja. Ich fühle mich so … Ich kann es nicht erklären. Helen …
    Ich verstehe dich, sagte Marie.
    Du weißt, wie gern ich dich sehen würde, oder?
    Ich weiß es. Ich würde dich auch gern sehen.
    Bald! Nach dem … Erst danach.
    Du brauchst es mir nicht zu erklären. Ich verstehe dich.
     
    Auf dem Weg zum Auto rupfte er hohe Halme aus der Wiese. Er kickte Steine vor sich her und trampelte Maulwurfshügel nieder. Aus der Geldbörse nahm er den Glücksbringer, den Marie ihm geschenkt hatte. Er drehte das silberne Kleeblatt in der Hand.
    Von ihr. Diesen Gegenstand hatte sie ausgesucht. Die, die in diesem Moment ein paar Kilometer weiter mit ihrem Kind auf dem Spielplatz oder im Supermarkt Männer wie Frauen dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen.Er sah sie vor sich, er sah ihre Gestalt, sah das Kleid, das sich über ihre Hüften spannte. Er wusste genau, wie es sich anfühlte, über diese Hüften zu streichen. Er wusste, wie es war, mit ihr an einem Regentag aus einem Hotelfenster zu schauen, halb hinter dem Vorhang verborgen, und die Passanten beim Kampf mit dem Wind und den Schirmen zu beobachten. Er

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