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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Entscheidendes behutsam erleben zu lassen. Bald darauf lebte er wieder wie vor einer Kamera, schnell, doch nicht schmerzlos.

2
    Eine Woche nach dem Begräbnis setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, auf dem sich nichts verändert hatte, mit Ausnahme eines offiziellen Beileidsschreibens von Wolf, das in seiner Tastatur steckte. Er stellte das Blaulicht an. Trotzdem schwankte Kollege um Kollege heran, um ihm zu kondolieren. Giovanni wollte mit Werkstoff auf Helen anstoßen, und ein Praktikant fragte, ob Jonas mit ihm auf der Toilette einen Joint rauchen wollte. Nachdem Ophelia ihm einen Blumenstrauß überreicht hatte, bat er Werner, dem Rest der Belegschaft auszurichten, er wisse um ihr Mitgefühl und sei dankbar, wolle aber in Ruhe gelassen werden.
    Ich soll dir doch einen Gefallen tun, sagte er.
    Das ist jetzt bestimmt nicht der rechte Zeitpunkt, sagte Werner.
    Ich will es aber hören! Ich kann etwas für dich tun, sagtest du, und ich würde sehr gern etwas für dich tun.
    Darüber reden wir ein andermal.
    Ich soll zur Normalität zurückfinden, meinte diese Telefonpsychologin. Da gehörst du mit deinen Wünschen dazu!
    Hat sie das auch gesagt?
    Das allerdings nicht.
    Die kennt mich nämlich nicht!
    Schlimmeres als ein Nein kannst du nicht zu hören kriegen.
    Deine Freundschaft in Ehren, aber da bin ich mir nicht so sicher.
     
    Jonas aß in einem japanischen Lokal an der Ecke zu Mittag, obwohl ihm das fernöstliche Musikgedudel auf die Nerven ging und der Mann mit der weißen Mütze, der sich gelangweilt über die Saloontür zur Küche beugte, so aussah, als hätte er bisher nur im Gefängnis gekocht. Doch er wollte sich nicht den Blicken der Kollegen in der Kantine aussetzen, und zu Hause essen, wie es ihm Lea, die der Kinder wegen noch geblieben war, per SMS angeboten hatte, wollte er erst recht nicht.
    Im Wein schwamm eine Mücke. Er fischte sie mit Hilfe der Serviette heraus. Sie lebte noch. Er freute sich.
    Er kaute, starrte die Wand an, kaute. Plötzlich explodierte etwas in seinem Mund.
    Er schmeckte Blut. Er spuckte aus. Er hatte auf etwas gebissen, einen Knochensplitter oder Knorpel. Mit der Zunge befühlte er seine Zähne. Im Oberkiefer klaffte eine Lücke.
    Noch einmal spuckte er aus. Ein Stück Zahn landete in der Serviette. Er betrachtete es. Er begann zu weinen.

3
    Am Nachmittag belästigte ihn Severin. Er war so betrunken, dass ihn seine Assistentin mitsamt den Krücken während seiner Ansprache stützen musste, was die junge Frau ohne jede Irritation tat. Unterdessen versuchte Jonas einen Zahnarzt zu finden, der ihn noch am Nachmittag drannahm.
    Du musst schnell … vergessen. Du musst schnell … auf die Beine kommen. Buddha hat gesagt … weißt du, was Buddha gesagt hat?
    Ja, ich weiß, was Buddha gesagt hat, sagte Jonas. Und in den Hörer: Halb sechs? Geht es nicht früher? Ja, ich warte.
    Buddha hat gesagt, geh in ein Haus und bring mir … keine Leiche, und ich wecke dein Kind wieder auf!
    Severin, das hat Buddha bestimmt nicht gesagt. Halb fünf? Wäre besser! Vielen Dank!
    Doch, das hat er gesagt, beharrte Severin, während seine Assistentin Jonas aus blauen Augen anstrahlte, als ginge sie nichts von alldem an. Ein Haus, das keine Leiche hat, und dein Kind wird wieder leben. So musst du das nehmen. So wirst du …
    Er umarmte Jonas und biss ihn in die Schulter. Zum Glück kam Werner vorbei. Fürsorglich geleitete er den nun weinenden Severin in die Ecke zurück, in der er vom Pokern aufgestanden war. Die Assistentin warf Jonas über die Schulter einen Blick zu.
     
    Wegen der Zahnarztsuche und weil er Lea hatte bitten müssen, die Kinder abzuholen, kam er zu spät. Schon von Weitem sah er Annes pinkfarbenes Kopftuch leuchten. Sie hatte eine Tasse Tee vor sich, während die Menschen rund um sie riesige Eisbomben löffelten. Sie trug ein luftiges weißes Kleid und Turnschuhe. Trotz der Eulensonnenbrille nahm er Mattheit auf ihrem Gesicht wahr.
    Wie geht es dir? fragte er. Gibt es etwas Neues?
    Ein wenig müde. Ich weiß, du willst konkretere Informationen. Konkret genug?
    Eigentlich nicht.
    Um mehr zu sagen, bin ich zu müde.
    Ihre Haut war dünn. Auf ihren Wangen lagen Schatten. Er kontrollierte, ob er eine SMS bekommen hatte, und schaute in eine andere Richtung.
    Ist deine Mutter in der Stadt? fragte er. Du wirkst gehetzt.
    Von uns beiden wirkt nur einer gehetzt. Dieser Japaner, das wollte ich dich schon am Telefon fragen …
    Das müssen wir jetzt nicht bereden!
    Ich kenne dich, es

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