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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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muss!
    Okay. Wir warten.
    Ein Auto blieb stehen, zwei Männer mit Strumpfmasken sprangen heraus und stürmten in die Tankstelle. Sekunden darauf hörte Jonas Schüsse.
    Das ist doch wohl nicht wahr, sagte Anne.
    Jonas lief zurück zum Shop, in dem die beiden Männer verschwunden waren. Durch die Scheibe beobachtete er, wie die Maskierten den Kassier, bei dem Jonas gerade zuvor seine Tankfüllung bezahlt hatte, mit Pistolen bedrohten. Sie schrien. Einer der Männer feuerte in die Decke. Jonas drehte sich nach Anne um, doch die hatte sich hinter einer Zapfsäule in Deckung gebracht. Er winkte ihr zu. Er starrte die Räuber an, sein Herz klopfte wild, und er fühlte sich wie in einem Rausch.
    Wirds bald? hörte er einen der Räuber brüllen.
    Ein Schuss. Noch einer. Der zweite Mann hatte geschossen, aber diesmal nicht in die Decke. Jonas sah den Kassier wie in Zeitlupe nach vorne kippen. So langsam stürzte er, dass Jonas das Loch in seinem Gesicht genau sah, die Höhle, die die Kugel geschlagen hatte, den Ausdruck letzten Schreckens im Gesicht. Der zweite Räuber sprang über die Theke, riss das Geld aus der Kasse, raffte die Lose eines Sofortgewinnspiels zusammen, warf alles in eine Einkaufstüte und hechtete wieder zurück. Sekundendarauf sprangen die Männer in ihr Auto und jagten davon. Im letzten Moment warf Jonas einen Blick auf das Schild. Er schrieb sich das Kennzeichen auf die Hand.

18
    Wie durch einen Panzer hörte er Lea sachlich über die notwendigen Behördengänge reden. Das Grab musste festgelegt, Anzeigen und Einladungen mussten ausgeschickt werden. Lea bestand darauf, das zu übernehmen, und bat ihn, ihr seine Adressen zu geben. Er hörte zu, dachte manchmal nach, schwamm wieder in Bildern, sah Helen, sah den Tankwart, sah die Polizisten, sah sich bei der Zeugenaussage sitzen, stellte fest, dass er mit Lea und Frank beisammen war. Er konzentrierte sich. Mit aller Kraft versuchte er sich im Hier und Jetzt festzuhalten.
    Sie erörterten die Zeremonie. Jonas setzte durch, dass es keine Verabschiedung in der Kirche gab, dafür fügte er sich Franks Wunsch, am Friedhof solle ein Priester sprechen. Dazu würde ein Mädchenchor singen. Von mir aus Priester, von mir aus Mädchenchor, dachte er, nur nicht in die Kirche, und überhaupt sollen sie mir alle auf den Buckel steigen.
    In welches Grab? Sie diskutierten. Mitunter wurde ihm schwach bewusst, wie unglaublich und unfassbar es war, was hier vor sich ging, doch gleich tauchte sein Verstand wieder ab, und er dachte, was zu denken war, und redete, was geredet werden musste. Ihm wäre ein eigenes Grab für Helen am liebsten gewesen, allerdings war das teuer. Schließlich gab er Lea nach, die Helen in ihrem Familiengrab beisetzen wollte.
    Du darfst dann auch zu uns, sagte Lea.

19
    Kaum hatte er am Morgen das Haus verlassen, rief er Werner an und bat ihn, dem Personalchef auszurichten, er käme auch heute nicht.
    Gestern habe ich dich dreimal vergeblich zu erreichen versucht, sagte Werner. Wie geht es dir?
    Zuerst war ich bei der Polizei, Gegenüberstellungen. Ich frage mich nur, wie man einen Menschen wiedererkennen soll, der beim ersten Mal eine Damenstrumpfhose über dem Kopf hatte. Danach mit den Jungen in den Bergen. Tierpark, Krokodile, Lagerfeuer. Die Psychologin, mit der ich telefoniert habe, meinte, so etwas wäre wichtig für uns drei. Wenn die beiden –
    Kann ich etwas tun?
    Nein. Ich mache heute wieder einen Ausflug. Aber diesmal allein. Wohin, weiß ich noch nicht. Irgendwelche Vorschläge?
    Empfiehlt den auch die Psychologin?
    Den empfehle ich mir selber.
    Weiß man schon … Kennt man die Todesursache?
    Herzversagen. Es hat einfach aufgehört zu schlagen.
    Eine Weile sagte keiner etwas.
    Möchtest du, dass ich zum Begräbnis komme?
    Jonas musste daran denken, wie Werner beim Begräbnis des Gründers der Drei Schwestern aus der zweiten Reihe heraus Santo subito! gerufen hatte.
    Nicht nötig, sagte er. Einen Moment darauf wurde ihmbewusst, wie schroff sich seine Antwort anhörte, aber er fügte keine Erklärung hinzu, sondern verabschiedete sich schnell.
    Das Lenkrad war heiß, und durch das Hemd spürte Jonas die Wärme des Sitzes. Wohin soll ich fahren? Ich könnte überallhin fahren.
    Das Meer? Zu weit entfernt. Er liebte es und war lange nicht da gewesen. Wenn er sich um Geschwindigkeitsbeschränkungen und Radarkontrollen nicht kümmerte, konnte er in der Nacht zurück sein. Aber nur für ein Essen am Strand lohnte es sich nicht, den Tag im

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