Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
Motorengeräusche. Er spielte mit seinem Telefon.
    Kim. Und der Nachname?
    Nur Kim.
    Nur Kim? Das wird lustig mit uns beiden. Kim, möchten Sie mir erzählen, wie alles gekommen ist?
    Nein.
    Jonas sah die Trauergäste von Helens Begräbnis auf die Straße strömen. Er fühlte missbilligende Blicke. Auf einer Schautafel neben dem Eingang waren in unkonventioneller Rechtschreibung die Tagesgerichte aufgelistet. Spatzen hüpften auf verlassenen Tischen und pickten nach Brotresten. Jonas roch das Deo des Mannes, der ihm gegenübersaß, einen beißenden, billigen Duft.
    Was ist mit ihnen los? Sind Sie immer so zurückhaltend?
    Was wollen Sie eigentlich von mir?
    Dass Sie reden. Dass Sie mir alles sagen.
    Kim schaute abweisend in die Wolken. Jonas betrachtete Kims Fingernägel. Ohne Sorgfalt beschnitten und nicht sehr sauber. Er trank sein Glas leer. Füllte es erneut, wartete. Kim steckte sich eine Zigarette an. Er hielt die Packung Jonas hin, der schüttelte den Kopf. Ringsum unterhielten sich Menschen halblaut.
    Jonas trank und fragte sich, ob er imstande war, einen Menschen zu töten. Er horchte in sich hinein. Er konnte es nicht, nein, er würde es niemals können, und er würde es niemals wollen.
    Ein älterer Mann mit bäurischem Hut unterbrach ihr Schweigen. Meine Mutter, sagte er. Vierundachtzig, aber weh tut es dennoch.
    Jonas zog es vor, nur zu nicken. Kim hielt dem Mann seine Zigarettenschachtel hin.
    Und wer war es bei Ihnen?
    Seine Freundin, sagte Jonas und wies auf Kim.
    Mein Gott, so jung also? murmelte der Mann. Mein Beileid!
    Weder Jonas noch Kim reagierten, und so wandte er sich wieder seinen Freunden oder Verwandten zu, die begonnen hatten, Karten zu spielen.
    Seit wann? fragte Jonas.
    Es tut mir leid.
    Das ist keine Antwort.
    Das tut mir auch leid.
    Versetzen Sie sich in meine Lage, sagte Jonas. Ich will wissen, mit wem ich verheiratet war. Ich will Ihnen nichts tun. Ich habe nichts gegen Sie. Ich sollte vielleicht, aber es ist nicht so, ich fühle nicht den geringsten Groll gegen Sie. Da ist etwas, was ich nicht verstehe, und es hat nichtsoder nur wenig mit Ihnen zu tun. Wenn wir hier weggehen, ohne dass Sie mir erzählt haben, was zwischen euch gewesen ist, bringe ich die nächsten Jahre in Ungewissheit zu, und darauf kann ich verzichten, es ist auch so alles schon schrecklich genug.
    Das verstehe ich, aber was kann ich tun? Wie soll ich Ihnen helfen? Ist Ihnen klar, dass auch ich jemanden verloren habe, der mir wichtig war?
    Jonas fühlte einen Stich, aber er ließ sich nichts anmerken.
    Wieso ist das mit Ihnen passiert? fragte er. Was war das? Wieso tat sie es?
    Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Im Grunde kannte ich sie kaum.
    Wenn das stimmt, hilft mir das schon. Ein wenig.
    Jonas betrachtete den ausgebleichten Mantel des anderen, die ehemals wohl hellen Schuhe mit den schiefen Absätzen. Die Hose war zu kurz. Das darf alles nicht wahr sein, dachte er.
    Kennengelernt haben wir uns vor einem halben Jahr, sagte Kim.
    Sagen Sie das bitte noch einmal.
    Halbes Jahr.
    Und dann ging es sofort los?
    Dann ging es sofort los.
    Wie lief das, wie oft, wo?
    Das wollen Sie wirklich wissen?
    Es scheint so.
    Ich weiß nicht. Oft. Zweimal die Woche. Dreimal. Meistens bei mir, ich lebe allein.
    Zweimal die Woche? Dreimal?
    Ja, so ungefähr.
    Drei Mal? Drei Mal?
    Den Blick in den Bäumen, nickte Kim und schnippte die Asche neben den Aschenbecher.
    Wann?
    Nachmittags, sagte Kim. Am Morgen. Abends selten.
    Am Nachmittag, wiederholte Jonas. Morgens.
    Sie müssen mir glauben, ich wusste nicht viel über sie, es war rein – es war keine sehr …
    Ich verstehe schon, was Sie sagen wollen.
    Anfangs wusste ich nicht, dass sie verheiratet ist, sie erwähnte es lange nicht, und Ringe haben Frauen ja viele an den Fingern. Auch über die Kinder sagte sie nichts. Ich weiß nicht, ob ich mich sonst darauf eingelassen hätte. Es tut mir leid.
    Was tut Ihnen denn leid? fragte Jonas. Was um alles in der Welt haben Sie denn Schlimmes angestellt? Verraten Sie mir, was Ihnen leid tut? Was denn?
    Der andere schwieg.
    Ich lasse Sie in Ruhe, sagte Jonas. Für den Fall, dass mir noch etwas einfällt, hätte ich gern Ihre Mobilnummer.
    Kim gehorchte. Jonas tippte die Nummer in sein Telefon und machte einen Kontrollanruf. In Kims Tasche läutete es.
    Darf ich auch etwas fragen? Wie ist es passiert? Darf ich das wissen?
    Nein, sagte Jonas.

ZWEI

1
    Sein Leben schien bisweilen schneller abzulaufen, um urplötzlich zu stoppen und ihn etwas

Weitere Kostenlose Bücher