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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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bewusst, dass in dieser Kiste vor ihm jemand lag, mit dem er lange zusammen gewesen war. Der ihm viel bedeutet, mit dem er viel geteilt, der viel über ihn gewusst hatte. Doch all das war nun weit weg. Er hatte alles gesagt. Das da vorne war sie, und sie war es nicht. Was von ihr blieb, war in ihm, nicht da vorn. Obgleich er den Gedanken kaum ertrug, dass die Hände, die ihn gestreichelt hatten, nun hier liegen würden und nicht zu Hause neben ihm im Bett, so wie die Augen, in denen er früher hatte versinken können, wie die Haare, die er immer noch roch, wenn er an sie dachte. Der Mund, der gesprochen hatte, der ihn nicht nur geküsst, der ihm auch größte Intimität geschenkt hatte,ein Gefühl, an das er sich plötzlich erinnerte und das ihm seiner Unangemessenheit wegen peinlich war vor allen, die seine Gedanken lesen konnten (und er zweifelte nicht, dass es sie gab). Hier ruhen ehedem blasende Lippen. Der Satz wich nicht mehr aus seinem Kopf. Er musste lachen. Es war grässlich.
    Als sie den Sarg hinabsenkten, begannen vereinzelt Menschen zu weinen. Lea weinte nicht. Frank weinte nicht. Jonas weinte nicht. Hinter ihm schluchzte jemand auf. Gegen seinen Willen drehte er sich um. Ein Mann mit asiatischen Zügen, der trotz der Hitze in einen schäbigen, viel zu großen braunen Staubmantel gehüllt war. Jonas hatte ihn noch nie gesehen, und trotzdem begriff er sofort, wer der Mann war und was der Mann war. Er hatte nicht die Spur eines Zweifels. Diese Gewissheit überraschte ihn beinahe ebenso wie das Auftauchen des Mannes in seinem Leben.
    Nein, sagte er zu sich, du irrst dich, Hirngespinst, du bist überreizt. Doch, sagte er, doch. Nein, sagte er, Unsinn, wieso? Weil es so ist, sagte er. Vielleicht stimmt es wirklich, sagte er. Es stimmt, antwortete er.
    Neben ihm bewegte Lea den Mund. Er hörte nichts. Mit den Händen in den Taschen stand er da. Fühlte eine elende Nacktheit.
    Machs gut, sagte er schnell zu Helen.
    Und schloss in sich die Tür.
    Während ein schwarz gekleideter Kinderchor, einige Sekunden zu spät, Ave Maria anstimmte, stiegen in Jonas Bilder auf, die sein Verstand nicht akzeptieren wollte. Helen im Bett, eine fremde Hand auf ihrer Brust. Helen bei der Liebe mit einem gesichtslosen anderen. Die Bilder taten nicht weh, sie verstörten ihn nur, ihn verstörten Fragen, etwa jene, was sie mit diesem Mann geredet hatte.Hatte sie von sich erzählt, von ihren Wünschen und Hoffnungen und Sehnsüchten, auf einer Skala von eins bis zehn? Hatte sie von der Boutique erzählt? Auch über ihren Ehemann gesprochen? Der kleine Japaner da hinten kannte Jonas möglicherweise recht gut, während Jonas seinerseits von ihm nichts wusste.
    Stimmt das wirklich?
    Ist das möglich?
    Es ist möglich. Es ist so.
    Er behielt ihn im Auge. Als das Grab zugeschaufelt wurde, drehte sich der Mann um und marschierte in Richtung Ausgang. Jonas flüsterte Frank zu, er müsse etwas erledigen und sie sollten schon in das Restaurant vorgehen, in dem das Totenessen stattfand. Frank sah ihn aus roten Augen an und nickte.
    Jonas schritt neben dem Mann einher. Der Japaner blickte ihn an und sah sofort weg. Ging schneller. Jonas hielt das Tempo. Der Mann bog in einen Seitenweg ein. Jonas blieb neben ihm und starrte ihn unablässig an.
    Seit wann? fragte er. Es klang höhnisch und schrill und weniger souverän, als er beabsichtigt hatte.
    Der Mann schlug einen Haken und wollte davonlaufen, doch Jonas erwischte ihn am Saum seines alten Mantels. Er lachte hämisch. Der Japaner hatte Angst, das war augenfällig.
    Ich will nur mit Ihnen sprechen, sagte Jonas.
    Ich weiß nicht, worüber!
    Erfahren Sie gleich!
    Den Mann, der nur schwach protestierte, am Mantel neben sich herziehend, steuerte ihn Jonas in den Gastgarten eines Lokals gegenüber dem Friedhofstor. An den Tischen saßen Betrunkene in Schwarz.
    Für sich wollte Jonas Mineralwasser. Die Betrunkenen an den anderen Tischen brachten ihn auf die Idee, den Unbekannten mit Alkohol gesprächig zu machen, und als die dickste Kellnerin, die er je gesehen hatte, mit mürrischer Miene an den Tisch trat und ihn aus schmalen Speckschlitzen anblickte, bestellte er einen kleinen Krug Hauswein.
    Wie heißen Sie eigentlich?
    Kim.
    Und wie noch?
    Nur Kim.
    Jonas hatte das Gefühl, uneben zu sitzen, er rückte seinen Stuhl zurecht, ohne dass das Gefühl wich. Sein Herz schlug schnell. Er ärgerte sich darüber. Um ruhiger zu werden, konzentrierte er sich auf die Umgebung, auf die Vogelstimmen, die

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