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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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klopfte in ihr Gespräch. Hastig verabschiedete er sich von Lea und drückte auf Annahme. Anne weinte.
    Ich habe ungefähr eine Stunde lang geglaubt, du seiest tot.
    Ich auch, sagte er.
     
    An der Tür läutete es. Auf Socken schlich er hin. Durch den Spion sah er Joey mit einem Blumenstrauß. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und rieb sich das Gesicht. An der Pinnwand neben der Garderobe hing die Bordkarte. Er las die Aufschrift. Flugnummer, Flugziel, Klasse, Sitz 8B. Im Hausflur hörte er Joeys stampfende Schritte leiser werden.
    Er schlich zurück in die Küche. Er betrachtete die Gläser, aus denen Marie am Vortag getrunken hatte. Im Regal fand er einen ihrer Haargummis. Er streifte ihn sich über das Handgelenk. Mit Tee und einer alten Zeitung verkroch er sich ins Bett. Er hatte gerade zu lesen begonnen, da rief Nina an.
    Habe gerade gehört, dass du nicht kommst. Du lässt mich also hier allein. Noch krank? Oder …
    Krank. Einfach krank.
    Posttraumatisches Stresssyndrom? Soll ich vorbeikommen und dir beim Entstressen helfen?
    Bist du nicht im Büro? fragte Jonas. Hört dir niemand zu, wenn du solche Sachen sagst?
    Und wenn schon! Bei dem, was die hier alles so von sich geben … Weißt du, was Severin vorhin gesagt hat? Er sagte, er –
    Ich mag bloß schlafen. Bis morgen!
    Ihm war kalt. Er vergrub sich unter der Decke. Dreimal wählte er Maries Nummer, dreimal legte er gleich wieder auf. Er drehte sich auf die andere Seite, drückte das Gesicht ins Kissen, wälzte sich umher. Er rief ein viertes Mal an, und diesmal ließ er es läuten.
    Hast du heute noch mal Zeit? Ich weiß, du hast keine Zeit und kannst nicht. Aber vielleicht hast du Zeit und kannst.
    Ich kann nicht. Ich bin in der Arbeit. Hatte mit meinen Kolleginnen großen Ärger wegen gestern. Die mussten nicht nur für mich einspringen, sondern auch für mich lügen, ist mir ziemlich unangenehm.
    Ich weiß. Es tut mir leid. Aber du könntest Zeit haben wollen und kommen wollen, und deshalb könntest du Zeit haben und kommen. Du könntest zu mir kommen. Für eine Stunde. Eine halbe.
    Zwei Tage hintereinander, das geht nicht! So gern ich würde.
    Ich weiß. Fragen musste ich trotzdem.
    Pause. Er hörte im Hintergrund Menschen sprechen. Jemand lachte, wohl eine Frau mit tiefer Stimme. Eine Durchsage wurde gemacht. Jonas schloss die Augen. Er sah die abgestürzte Maschine vor sich.
    Bist du daheimgeblieben? fragte sie.
    Ich habe ein sehr seltsames Gefühl.
    Du hast gerade einen Flugzeugabsturz verpasst. Ich finde, das rechtfertigt schon mal ein seltsames Gefühl.
    Es hat nichts damit zu tun. Übrigens will die Fluggesellschaft mir einen Psychologen zahlen. Das kommt sie billiger, als wenn ich eingestiegen wäre. Ob ich sonst noch etwas von ihnen bekomme? Du musst es doch wissen, was zahlt ihr denn in solchen Fällen?
    Weiß nicht, bei uns überlebt nie jemand.
    Geschenkkorb zum Jahrestag bis ans Lebensende? Oder bleibt es bei der Psychologin?
    Wie ich dich kenne, gehst du nicht hin.
    Wie ich mich kenne, gehe ich nicht hin. Alles ist seltsam. Ich weiß nicht, ob ich es dir erklären kann. Ich würde gern mit dir reden.
    Bei dir und heute, so wie ich es verstanden habe.
    Genau, sagte er. Hier und heute würde ich gern mit dir reden.
    Davor oder danach?
    Was gibt es da zu lachen? Komm vorbei, Marie.
    Klingt schön, wie du meinen Namen sagst. Aber es geht nicht.
    Marie. Ma-rie. Mariee. Mmmarie. Marrie. Marriiee. Marie.
    Sie lachte erneut, schmatzte einen Kuss in den Hörer und legte auf.
    Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, blickte zur Decke hoch und dachte an nichts. Irgendwann merkte er, dass sein Gesicht feucht war. Er wollte aufstehen, doch er konnte sich nicht bewegen. Etwas geschah mit ihm, etwas veränderte sich. Als verschmölze sein Körper mit der Umgebung. Als werde er zu mehr. Als breite er sich aus.
    Er hob ab. Es ging leicht. Raum, Zeit, Materie waren nichts und eins, und in der Sekunde darauf war er die Zimmerdecke.
    Er war Mauer, Fugen, Staub. Obwohl er alles sah, was sich unter ihm befand, hatte er das Gefühl, seine Augen seien geschlossen, ja, in Wahrheit hatte er das Gefühl, keine Augen zu haben. Statt Hitze oder Kälte fühlte er eine Verbindung mit dem Haus und mit den Dingen. Er roch nichts außer sich selbst, den freundlichen Geruch von Stein. Unter ihm das leere Bett. Der Schrank. Der Teppich. Der Nachttisch. Das Fenster. Die Tür. Elemente einer Ordnung, die ihm nun wohlgesinnt war.
    Er wusste: Die Sonne

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