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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Glück hast. Nicht in falsche Flugzeuge einsteigst.
    Jonas schob seinen Teller endgültig zur Seite, obwohl er nicht einmal die Hälfte gegessen hatte. Marie schaute wieder aus dem Fenster. Er betrachtete ihr Profil. Sie sah müde aus.
    Inwiefern ist Apok seltsam? fragte er.
    Er – er scheint sich zu verändern. Es ist, als sei er jeden Tag ein anderer, ein neuer anderer, und könne sich nicht entscheiden, wer er denn nun werden wolle. Der, der mir am liebsten ist, scheint er nicht bleiben zu wollen.
    Das hört sich tatsächlich seltsam an. Also machst du dir Sorgen um ihn?
    Um mich mache ich mir Sorgen! Und indirekt um ihn. Aber am meisten um Sascha. Der Vater durchlebt rätselhafteMetamorphosen, die Mutter treibt es mit einem anderen, auf Dauer kann das für den Kleinen nicht folgenlos bleiben.
    Dass du mit mir schläfst, weiß doch dein Junge nicht!
    Aber vielleicht bleibt dadurch für ihn weniger Liebe übrig? Vielleicht mache ich alles falsch? Vielleicht mache ich auch Apok gegenüber alles falsch? Vielleicht sogar dir gegenüber?
    Ohne sich um die anderen Gäste oder die Bedienung zu kümmern, zog sie die Beine an die Brust, stemmte das Kinn auf die Knie, nahm eine Serviette und wischte sich damit die Augen. Jonas wechselte auf ihre Seite des Tisches und nahm sie in den Arm.
    Nichts machst du falsch, sagte er. Was du von mir bekommst, macht dich stärker und nimmt niemandem etwas weg, so wie das, was ich von dir bekomme, mich stärker macht und meinen Kindern nichts wegnimmt. Weil ich mich lebendiger fühle und weil ich mich dadurch, dass du in meinem Leben bist, diesem Leben leichter anvertrauen kann.
    Die Leute gegenüber warfen ihnen amüsierte Blicke zu. Jonas küsste flüchtig ihr Ohr.
    Das ist es also? fragte er. Das ist das Problem?
    Nein, Jonas. Das Problem ist, dass ich gern mit dir leben würde und nicht kann!
    Er packte sie am Arm. Aber wieso? Wieso kannst du denn nicht?
    Weil ich ein Kind habe! Weil das nicht geht!
    Sascha wäre nicht das erste Scheidungskind, aus dem später trotzdem kein drogensüchtiger Verbrecher wird!
    Ihr gesenkter Kopf zuckte rhythmisch, und Jonas hörte sie fremdartige Laute ausstoßen. So hatte er sie noch nieerlebt, er verstummte. Stattdessen hielt er sie fest, bis sie den Kopf hob, sich aufrecht hinsetzte und einen Schluck Wasser trank, wobei er den Arm von ihr nehmen musste.
    Sie winkte der Kellnerin. Jonas betrachtete sie von der Seite. Diese Haltung. Dieser Blick. Außer ihr kannte er niemanden, der anderen Leuten mit solcher Selbstverständlichkeit entgegentrat, wenn er gerade geweint hatte. Ihr war es egal, was diese Kellnerin über sie dachte. Ihr Kummer war ihr Kummer, sie war sie.
    Sie zog ihre Geldbörse. Die Kellnerin nickte träge und verschwand.
    Das geht auf mich, sagte Jonas.
    Nachdem ich mich darüber beschwert habe, dass ich Geld verdienen muss, kann ich mich nicht von dir einladen lassen. Verstehst du doch, oder?
    Ich gebe zu, es ist ein Standpunkt.
    Ist es.
    Ich wollte dir auch noch etwas sagen.
    Sag es nicht, Jonas.
    Nicht?
    Lass es mich sagen.
    Was denn?
    Ich liebe dich, sagte sie.
    Er drehte verlegen den Kopf und lächelte und lächelte und lächelte.
    Und ich darf nicht? fragte er. Ich würde aber gern.
    Dann sag es. Sag es mir hierher, leise, ins Ohr.

17
    Die meisten Kollegen waren aus den Ferien zurückgekehrt. Mit ihren Geschichten und ihren Sommerhits und mit ihrer Lust auf Werkstoff mit immer mehr Rum und weniger Weißwein, wodurch der Lärmpegel im Büro drastisch stieg. Es gab kaum etwas zu tun, auch weil Drei Schwestern einige größere Etats verloren hatte, was nicht zuletzt an der in den vergangenen Monaten erheblich gesunkenen Leistungsbereitschaft aller Mitarbeiter lag. Seit Wolf im Urlaub war, wurde in der Abteilung kaum noch gearbeitet. Immer öfter musste Jonas Kollegen Anlagetipps geben. Seine Tipps waren gut. Seine eigenen Aktien stiegen so stark an, dass er zukaufen konnte.
    Er ging früh, holte die Jungen ab, setzte sich mit ihnen in den Park. Oder er fuhr mit ihnen aus der Stadt hinaus, legte sich mit den langweiligen Eltern ihrer Freunde aus dem Kindergarten mit Decken und einer Kühltasche voll Proviant in eine Wiese und sah Kühen beim Weiden zu, während die Kinder Ameisenhaufen terrorisierten und Wälder in Brand zu stecken versuchten. Abends kam ab und zu Irina, und er ließ sich auf spontanen Zeitvertreib ein. Hektor und er schossen auf Tontauben, und Jonas gewann Hektors altes Waffenrad. Mit Joey landete er in einer

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