Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
die Leute?
     
    Er hatte kein Gepäck, deswegen druckte er die Bordkarte am Automaten aus, im Blickfeld die Schalter, an denen Marie manchmal auch saß, seit sie nicht mehr beim Flugpersonal war. In der Cafeteria fand er einen Platz am Fenster, wo er die startenden und landenden Flugzeuge beobachten konnte. In sein Handy tippte er:
    Und jetzt, du und ich, nur du und ich, wegfliegen. Anschnallen, Hände halten, fliegen, landen, beisammen sein, ein Leben hinter uns lassen, ein neues beginnen, du mit mir, ich mit dir.
    Das wäre schön, ja. Aber jetzt geht das nicht.
    Und dann blieb er einfach sitzen. Ging nicht zum Gate, sondern beobachtete die dahineilenden Menschen, die Alten mit den Hawaiihemden über den Schmerbäuchen, die Frauen mit den verschweißten Einkaufstüten, die Kinder mit den Teddys. Er schrieb Marie eine SMS um die andere, er verbrauchte Taschentücher, sah zum Fenster hinaus. In ihm war Leere. Er hatte das Gefühl, ein Fremdling auf Erden zu sein, jemand, der nicht zu den Menschen gehörte, die ihn umgaben.
    Als das Flugzeug kurz nach dem Abheben zu wackeln begann, hatte Jonas den Eindruck, etwas nicht Reales zu erleben. Er sah ein Flugzeug, das das Gleichgewicht verloren hatte, das zur Seite kippte, noch einmal aufzuckte und dann in einer gleißenden Explosion und mit einem welterschütternden dumpfen Geräusch hinter den Schallschutzfenstern auf dem Boden zerschellte.
    Rings um ihn schrien Leute. Er nahm es ebenfalls wahr wie etwas, das ihn nichts anging. Er sah das Feuer, zugleich fühlte er seine Beine nicht mehr, er musste hinsehen, um sich zu überzeugen, dass er sie noch hatte. Er blickte auf die Bordkarte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Sitz 8B.
    Vorne an der Fensterfront drängten sich aufgelöste, hysterische Menschen. Kinder brüllten lauter als die Erwachsenen. Durchsagen wurden gemacht, gleichzeitig, sodass nichts zu verstehen war. Polizisten rannten umher, mal in die eine, mal in die andere Richtung. Ein einziges Feuerwehrauto fuhr zur Absturzstelle. Erst nach Minuten folgten weitere, und nochmals Minuten danach leuchtete das erste Blaulicht eines Rettungswagens auf. Jonas hatte das Gefühl, an sich zu ertrinken.
    Eine Stunde später kamen die ersten Anrufe. Er sah zu, wie das Handy vor ihm auf dem Tisch vibrierte, und hob nicht ab. Werner war der Erste. Dann Marie, wieder Marie, noch mal Marie. Nina, Anne, Werner, Joey, Joey, Anne, Lea, Sondheimer, Sondheimer, Frank, Irina, Anne, wieder Werner, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, Marie, er hob ab und hörte sie an einem langen, unirdischen Schrei ersticken.

13
    Einen Tag verbrachte Jonas in einer Art Zwischenbewusstsein. Er redete mit Angestellten des Flughafens und der Fluglinie. Er unterschrieb Formulare. Er verjagte einen Reporter. Er telefonierte und wusste fünf Minuten später nicht mehr, mit wem er gesprochen hatte.
    Am Tag nach dem Unglück blieb er mit den Jungen zu Hause. Er spielte mit ihnen, schlief neben ihnen auf dem Boden ein, er schlief sechzehn Stunden an diesem Tag. Abends hatte er zweihundertvierundvierzig entgangene Anrufe. Als die Computerstimme ihn fragte, ob er wirklich alle hinterlassenen Nachrichten löschen wollte, drückte er eins für Ja.
    Am Tag darauf brachte er Tom und Chris in den Kindergarten, besorgte sich ein neues Handy und holte Marie am Flughafen ab. Sie gingen zu ihm in die Wohnung. Sie blieb bis zum Nachmittag. Kurz ehe er zum Höhepunkt kam, sagte Marie, den Unterarm über den Augen: Pump mich voll. Später schlich er in die Toilette und weinte. Er ging zurück und hielt sie fest, fest.

14
    Nachdem er die Jungen im Kindergarten abgeliefert hatte, fuhr er nach Hause und meldete sich im Büro abermals krank, obwohl die Erkältung so gut wie weg war. Zum wiederholten Mal musste er Werner erzählen, wie er einfach sitzen geblieben und nicht zum Gate gegangen war und was er dabei gedacht und gefühlt hatte.
    Haben sich Zeitungen bei dir gemeldet?
    Zwanzig oder dreißig. Die Fluggesellschaft darf meine Identität nicht bekannt geben. Trotzdem standen zwei Reporter sogar vor meiner Tür.
    Geht es dir gut?
    Ich weiß es nicht, sagte Jonas. Was meinst denn du?
    Er versandte an Freunde und Bekannte seine neue Handynummer mit der Bitte, sie keinesfalls weiterzugeben. Kurz darauf rief Lea an, ob er sie brauche und sie vorbeikommen solle. Er sagte, er käme zurecht.
    Das wäre etwas gewesen, sagte sie. Das wäre etwas gewesen.
    Ja, Lea, das wäre etwas gewesen.
    Annes Anruf

Weitere Kostenlose Bücher