Das Leben der Wünsche
Weg aus der Stadt hinaus. Am ersten Parkplatz hielt er, doch als ihm Nordic Walker mit Hunden entgegenkamen, ließ er den Motor wieder an. Nach einer Viertelstunde bog er spontan in eine Bergstraße ein. Einige Kilometer rumpelte der Wagen über eine steile, staubige Straße, bis sogar der CD-Player ausfiel. Sie endete, und ein schmaler Wanderweg begann. Weil weit und breit kein anderes Auto, ja überhaupt kein Zeichen von Zivilisation zu sehen war, stieg Jonas aus.
Es war deutlich kühler als in der Stadt. Der Wind fuhr ihm mit kräftigen Böen unter das Hemd. Es roch nach Wald, nach unbekannten Sträuchern, nach Pilzen, Moos und Regen. Harmlos, fast lieblich rumpelte es in der Ferne.
Die Hände in den Taschen, atmete Jonas die vibrierende Luft ein. Mit halb zusammengekniffenen Augen betrachtete er die Wolken, die über ihm hinwegzogen, sich ineinanderschiebend, weich und kräftig. In plötzlichem Entschluss marschierte er los, den schmalen Weg hinauf, obwohl er in derselben Sekunde von innerer Unruhe heimgesucht wurde.
Zunächst stieg der Weg stark an. Er führte an einer verfallenen Scheune und einer illegalen Müllhalde voller Kühlschränke und Waschmaschinen vorbei, mündete in eine Ebene, um nach einem kurzen Waldstück zu einem Pfad zu werden, der sich um den Berg herum bis zu dessen Spitze wand, mal breiter, mal so schmal, dass nur ein Einzelner Platz hatte, der überaus vorsichtig gehen musste, denn daneben fiel das Gelände jäh ab.
An dieser ausgesetzten Stelle blieb Jonas wieder im Wind stehen. Marie. Mit ihr hier zu sein. Das war sein größter Wunsch in diesem Moment. Dass sie nicht hier war, verwirrte ihn beinahe ebenso, wie es ihn bekümmerte. Er sollte ihr nicht schreiben, doch das Verlangen war zu groß.
Ich liebe liebe liebe dich.
Er hatte kein Netz.
Er hielt das Handy hoch. Er hielt es nach rechts, nach links, zwecklos. Er stieß einen Schrei aus, lang und wild. Als das Echo im Tal verklungen war, setzte er sich wieder in Bewegung, obwohl die Wolken dunkler und dunkler wurden.
Hinter der nächsten Kurve stieß Jonas auf Menschen. Drei waren es, etwa drei- oder vierhundert Meter vor ihm. Sein erster Impuls war umzukehren. Seine Beine marschierten jedoch weiter, was er halb staunend, halb geschockt zur Kenntnis nahm.
Die drei schienen eine Auseinandersetzung zu haben. Sie gestikulierten. Ein Mann hielt den anderen davon ab, auf die Frau loszugehen, so sah es wenigstens aus der Entfernung aus. In etwas hineingezogen werden wollte Jonas nicht. Aber er hatte ohnedies keine Wahl, seine Beine marschierten.
Der eine Mann schob den anderen zur Seite und versetzte der Frau eine feste Ohrfeige. Die Frau taumelte. Der andere Mann schien den Schläger zu tadeln, beinahe freundschaftlich. Jetzt aber! dachte Jonas. Was wird denn hier gespielt?
Er blickte zurück. Schaute nach vorne. Wollte er an dieser Gesellschaft vorbei? Nein. Doch der Frau musste er helfen.
Hey! rief er. Hey!
Sie hörten ihn nicht.
Beim Aufstieg bemühte er sich, so selten wie möglich neben sich in den Abgrund zu blicken. Je näher er den Leuten kam, desto stärker fiel ihm trotz der zunehmenden Dunkelheit, die die Gewitterwolken über den Berg breiteten, die Kleidung der drei auf. Noch nie hatte er Menschen gesehen, die so angezogen waren, außer in Kostümfilmen. Jacken und Hosen der Männer waren zu weit und schief geschnitten, genau wie das Hemd und der Rock der Frau, die dazu ein Kopftuch trug, ganz so, als kämen die drei aus der Komparserie eines bäuerlichen Historienfilms.
Er rief ihnen einen Gruß zu. Niemand reagierte. Sie schrien aufeinander ein, aber Jonas hörte keinen Ton, obwohl er schon nahe genug sein musste. Plötzlich riss sich die Frau von dem größeren Mann los, dem, der sie geschlagen hatte, und rannte den Bergpfad hinauf. Die Männer folgten ihr. Auch Jonas begann zu laufen. In derselben Sekunde blitzte und donnerte es, und er fühlte ein Brennen im Brustkorb. Nach einer Sekunde ohnmächtigen Schreckens lief er weiter. Erschaudernd überwand er eine kritische Engstelle. Dahinter wurde der Weg wieder breiter.
Erneut machten die drei halt. Der kleinere Mann, gerade noch ihr Beschützer, schlug auf die Frau ein. Zornig schrie Jonas auf. Mit aller Kraft versuchte er aufzuschließen. Er rief, er schrie, sie hörten ihn nicht.
Als er nur noch fünfzig Meter von ihnen entfernt war, hielt er das Seitenstechen nicht mehr aus und wechselte vom Laufen in flotten Gang zurück. Atemlos rief er die drei an.
Weitere Kostenlose Bücher