Das Leben der Wünsche
Karaoke-Bar, es machte ihm Spaß zu singen, die Leute unterhielten sich gut, aber bloß solange, bis Joey an die Reihe kam, der zu einer Ballade schrie und winselte, als sei es Heavy Metal, und zum Schluss tränenüberströmtauf der Bühne stand, ehe ihn Jonas an der Hand nahm und herunterzog.
Mit Marie im Hotel. Mit Nina in einer Bar. Mit Werner bei einer Autoausstellung. Mit Anne im Wald, sie schwach, er traurig. Allein als Zuschauer in einer Gerichtsverhandlung, aus Neugier.
18
Nachdem er Nina nach Hause gebracht hatte, die sich krank fühlte, kreuzte er ziellos durch die Stadt. Er rief Irina an, alles in Ordnung. Anne hob nicht ab. Er sprach ihr auf den Anrufbeantworter, sie könne ihn noch zurückrufen, er sei vielleicht länger unterwegs. Marie schickte er eine SMS, obwohl der Abend eine gefährliche Tageszeit dafür war, doch er konnte sich nicht beherrschen. Wie geht es dir, schrieb er, ich denke an dich .
Geht so. Liege im bett und döse vor mich hin. Denke nach. Über dich und mich.
Im Radio lief einer seiner Lieblingssongs. Er fuhr rechts auf den Parkplatz eines Supermarkts, dessen Schranke offen stand, und drehte lauter.
Er stellte sich Marie vor, wie sie in ihrem Bett lag. In dem Bett, in dem er mit ihr geschlafen hatte. Wie der geisterhafte Apok, den Jonas nur von Fotos kannte, durch die Wohnung schlich, wie Sascha nebenan hustete. Wie sie dann noch einmal aufstand,ins Wohnzimmer ging oder in die Küche, um Tee zu machen. Er sah ihre Hände, er sah ihre Handgriffe. Die Nägel, rund geschnitten, das Muttermal am Handrücken, die elegante Form der Finger, die etwas extravagante Uhr am Handgelenk. Er sah ihr Gesicht, wie es sich halb lächelnd, halb mürrisch verzog, weil ihr etwas hinunterfiel und sie aufwischen musste. Er sah ihre Augen. Er sah sie, wie sie an der Wand lehnte, Tee trank, vor sich hin starrte. Wie sie zu Apok ins Wohnzimmer ging, den Fernseher abdrehte, sich zu ihm setzte.
Ob sie miteinander schliefen? Sicher. Oft? Wusste er nicht. Wollte es auch nicht wissen. Sie hatten vereinbart, das Thema auszusparen. Einmal hatte er sich dazu geäußert, darauf hatte sie erwidert: Was soll ich denn machen? Er ist mein Mann! Und ich brauche auch Sex! Seither hatte er keine Fragen mehr gestellt.
Der Song verklang. Jonas lehnte den Kopf gegen den Türrahmen, blickte auf die Lichter an den Armaturen, auf den nachtschwarzen Parkplatz. Er tippte sich durch sein Handy. Mit einer resignierten Geste warf er es auf den Beifahrersitz.
Vor der Tür stapelten sich wieder die Prospekte. Mit dem Fuß kehrte er sie vom Vorleger. Die Tür musste er mit Kraft aufdrücken, so mächtig war der Berg auf der anderen Seite. Durch Broschüren, Kataloge und Reklamezettel watete er zum Telefon. Keine einzige Nachricht, es hatte nicht einmal jemand angerufen, seit er das letzte Mal da gewesen war.
Es roch nach Gärung. Er folgte dem Geruch. In der Speisekammer knipste er das Licht an. Äpfel, einige faulten. Er holte eine Tüte aus einem Schrank, er fand sich in der Wohnung blind zurecht, er packte die Äpfel ein und stellte die Tüte zur Tür.
Er ging durch die dunklen Räume. Seit seinem letzten Besuch war niemand hier gewesen, niemand hatte berührt, was er berührte. Er konnte sich geradezu selbst noch spüren, das, was er beim letzten Mal von sich hiergelassen hatte.
Seines Vaters Wohnung. Früher hatte seine Mutterauch hier gelebt. So wie er selbst. Jetzt war es ein Museum. Eingefrorene Zeit.
Auf dem Balkon holte er ein Wäschestück von der Leine, das von einem Balkon darüber heruntergefallen war, und ließ es in die Tiefe segeln. Anders als beim letzten Mal war der Himmel klar, und in der Luft lag der Geruch von Holzkohle und Gegrilltem. Der gekachelte Boden unter ihm war übersät mit Taubenfedern, vermutlich nisteten die Vögel unter dem Tisch. Einige hörte er auf dem Dachfirst gegenüber gurren.
Das Telefon läutete.
Jonas schloss die Augen und dachte sich weit weg, an einen Strand, bis es aufhörte. An Werner und Hektor schickte er eine SMS, Noch unterwegs? Wieder läutete es. Jonas lachte hysterisch. Es hörte auf, er wartete. Das Telefon blieb still.
Liege brav im Bett , schrieb Werner.
Ganz neue Sitten , schrieb Jonas zurück.
Kann heute nicht, habe Streit mit der Unsäglichen , schrieb Hektor.
Verkneife mir jeden Kommentar , antwortete Jonas.
Er ging durchs Schlafzimmer. Ihn schwindelte. Hier war der Geruch seines Vaters am ausgeprägtesten, ein schwerer, bedrückender Geruch nach
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