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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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konnte. Sie schlugen sie nicht mehr. Halb lag die Frau auf dem Boden, halb lehnte sie am Felsen. Trotz ihres blutigen Gesichts war zu erkennen, dass sie schön war. Ihr Ausdruck war auf natürliche Weise stolz, wie man es nur bei Menschen sah, die gelernt hatten, ganz bei sich zu sein. Ein Ausdruck, der ihm beinahe ebenso naheging wie die ungeheure Vertrautheit, die er mit dieser Frau fühlte, die er schon die ganze Zeit mit ihr gefühlt hatte, ohne sich dieses Gefühl erklären zu können, jedenfalls bis jetzt.
    Er kannte sie. Er kannte diesen Blick. Er kannte dieseSeele, und er war unfähig, etwas anderes zu tun, als im regenlosen Unwetter zu stehen, wo über und unter ihm Blitze das Halbdunkel der Berglandschaft durchzuckten, diese durchsichtigen Menschen anzusehen und Bitten vor sich hin zu murmeln.
    Schwach drang an sein Bewusstsein, dass sein Telefon nicht mehr in seiner Tasche steckte. Wo auch immer er es verloren hatte: egal. Stille.
    Verlorenheit. Ausgeliefertheit.
    Er war klein vor dieser Frau, und er war klein vor den Geheimnissen.
    Ihn traf ihr Blick. An einem erstaunten Aufleuchten ihrer Augen las er ab, dass sie ihn in dieser Sekunde wahrnahm. Sie sah ihn. Und mehr noch, sie erkannte ihn, so wie er sie erkannt hatte, und warf ihm einen zeitlos innigen, vertröstenden Blick zu, einen Moment, ehe der Größere sich auf sie stürzte, die Hände um ihren Hals legte und zudrückte.
    Nahe dem Abgrund setzte sich Jonas auf einen Stein. Mit gesenktem Kopf schrieb er Zeichen in die Erde. Wie lange er so saß, wusste er nicht. Als er sich erhob, waren die Schemen weg.
    Er ging zur Felsnische. Nirgendwo waren Spuren des Kampfes zu sehen. Aber das hatte er auch nicht erwartet.
    Er zog sich nackt aus. Er stand da. Er stellte sich auf einen Stein direkt über dem Abgrund. Irgendwann kam die Sonne hervor, er fror dennoch. Er betrachtete seine Füße auf dem rissigen, schroffen Stein, blickte hinab in die kahle Flanke des Berges. Weiter unten lag Nebel auf den Bäumen. Ein Adler flog einen Kreis über dem Tal, immer wieder denselben, wieder und wieder gegen den Uhrzeigersinn. Weit entfernt donnerte es noch leise.
    Ihm fiel ein, dass Tom und Chris im Kindergarten auf ihn warteten.
    Als er sich zum Gehen wandte, die Kleidung über der Schulter und in den Händen, erregte etwas an der Wand der Felsnische seine Aufmerksamkeit. Eine Inschrift, in den nackten Fels geritzt:
     
    PRINCIPIVM DEVS AETERNVS
    FINISQVE BEATVS

21
    Nicht waschen, nur schneiden.
    Nicht waschen?
    Auch nicht nass sprühen.
    Während eine magere Blondine mit flachen Brüsten um ihn herumging und ihm nach seinen Anweisungen die Haare kürzte, musste er immer wieder den Impuls unterdrücken, das Handy aus der Tasche zu ziehen, um nachzusehen, ob Marie ihm geschrieben hatte. Im Spiegel verfolgte er, wie er sich veränderte. Er bemühte sich, nicht zu oft hinzusehen.
     
    Im Kindergarten nahm ihn eine der Erzieherinnen beiseite, noch ehe Tom und Chris ihn gesehen hatten.
    Die zwei sind zurzeit sehr aggressiv, sagte sie in einem besserwisserischen Ton, der Jonas reizte. Sie schlagen mit den Fäusten, sie treten und spucken! Heute hat Chris ein Mädchen gebissen!
    Ist das ungewöhnlich?
    Finden Sie nicht?
    Ich weiß nicht. Ich werde darauf achten. Und mit ihnen reden.
    Womöglich wird das nicht genug sein, sagte die Erzieherin.
    Wie meinen Sie das?
    Er musste lauter sprechen, weil die andere Erzieherin sich auf einen Hocker gesetzt und begonnen hatte, aufeiner Gitarre zu spielen und mit einer Schelle am Fußgelenk dazu zu rasseln. Sie sang mit süßlich freudiger Stimme. Die Frau ihm gegenüber warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.
    Seit Neuestem macht Tom absichtlich in die Hose. Sie werden ja schon gemerkt haben, dass es passiert …
    Allerdings, er trägt ja am Nachmittag nie das, was ich ihm morgens angezogen habe.
    Er macht es absichtlich!
    Und da sind Sie sicher? Na gut, was schlagen Sie vor?
    Ich kann Ihnen zwei Therapeutinnen empfehlen. Sie reden mit den Kindern, um sich ein Bild zu machen. Danach hören Sie ihre Eindrücke und Vorschläge. Einen Versuch ist es doch sicher wert!
    Geben Sie mir die Adressen, Jonas konnte den Satz nicht beenden, weil in diesem Moment Tom und Chris auf ihn sprangen und sich mit ihrem ganzen Gewicht an sein Hemd hängten.
    Du siehst neu aus! rief Tom.
    Du hast ganz kleine Haare! rief Chris.
    Ich war beim Friseur. Und für euch habe ich eine Überraschung!
    Ich will auch neue Haare haben!
    Wenn du willst, schneide ich dir

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