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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Niemand reagierte. Es blitzte, und der Donnerfolgte in derselben Sekunde. Jonas versuchte zu ignorieren, welche Gewalten ihn hier umgaben. Nur schwach kam ihm zu Bewusstsein, dass er in großer Gefahr war, dass er seine Schlüssel, seinen Gürtel wegwerfen und sich flach auf den Boden legen sollte.
    Wie er so auf die drei zumarschierte, erkannte er, dass die altertümliche Kleidung bei Weitem nicht das Ungewöhnlichste an den Leuten war. Alles an ihnen wirkte, schemenhaft, durchsichtig. Ihre Gesichter, ihre Körper, ihre Beine, alles schien handfest zu sein und doch auf unverständliche Weise transparent.
    Scheu blieb er stehen. Um sie herum lag eine Art Glanz. Entweder hat es etwas mit dem Gewitter zu tun, dachte er, oder ich schnappe allmählich über.
    Abermals wurde die Frau geschlagen, diesmal von beiden Männern und mit noch größerer Brutalität. Jonas schrie auf, als er ihren Kopf zur Seite fliegen sah. Hey! brüllte er.
    Die Frau riss sich los und flüchtete bergauf. Zu mir, zu mir! schrie er, aber sie rannte in halsbrecherischem Tempo Richtung Gipfel. Die Männer folgten ihr. Jonas konnte nicht mehr, doch er überwand sich, den Blick starr geradeaus, um gegen die Wucht des Abgrunds direkt neben sich anzukämpfen.
    Immer höher kamen sie, immer dunkler wurde es, immer lauter und böser wurde der Donner. Blitze zuckten, ohne dass ein Tropfen fiel. Sie stürmten über den Weg. Hier hatte es bereits geregnet, der Boden war schwer. Jonas war übel, und seine Zähne schlugen aufeinander. Die Schmerzen in der Seite ignorierend, stieg er den Streitenden hinterher, schneller, als er je einen Berg hinaufgestiegen war. In seinen Schritten lag einenie gekannte, nachgerade übermenschliche Kraft, und er wusste, wenn er die beiden Männer zu fassen bekam, würde er sie mit übermenschlicher Wut bestrafen und die Frau mit übermenschlichem Schutz in Sicherheit bringen. Zugleich ahnte er, dass es zwischen ihm und ihnen etwas gab, das stärker war als seine Übermenschlichkeit. Er rief. Schrie. Er wusste, es ging nicht nur um die Frau allein, es ging um ihn selbst, hier geschah etwas, was mit ihm zu tun hatte, warum und wie auch immer.
    Die Frau strauchelte. Augenblicklich waren die Männer bei ihr. Mit der Faust schlug der Größere sie ins Gesicht. Der andere trat sie in den Leib. Aufhören, schrie Jonas, aufhören!
    Er rannte weiter, und gerade als er sich gewiss war, sie gleich eingeholt zu haben, als er schon den Plan gefasst hatte, dem Größeren in den Rücken zu springen und sich dann dem anderen zu widmen, glitt er auf einem nassen Stein aus und stürzte. Als er hochkam, war die Frau ein weiteres Mal geflüchtet, und die drei waren weit voraus. Sein wütender Aufschrei wurde übertönt von einem Donner, der klang, als würde direkt über ihm eine ganze Welt explodieren.
    Er sah sie laufen. Er gab auf. Er konnte nicht mehr.
    Seine Beine bewegten sich von alleine. Jonas lachte verzweifelt, als er merkte, dass er wieder gegen den Sturm anrannte. Im Matsch blieb einer seiner Turnschuhe stecken, er musste ihn herausziehen und wieder hineinschlüpfen, wodurch er noch mehr Zeit verlor. Vor ihm kletterten die drei wie Bergziegen, fast wie animierte Geschöpfe in einem Film schnellten sie von Stein zu Stein, und er mühte sich unter ihnen weiter ab. Es donnerte. Ein paar Meter neben ihm fuhr ein Blitz in den Boden, sodassJonas umgeworfen wurde. Sein Herz setzte aus, schlug unregelmäßig weiter. Er sprang auf. Mein Gott, rief er, mein Gott, o mein Gott!
    Knapp unterhalb des Gipfels erwischte einer der Männer die Frau an den Haaren. Er zerrte sie zurück und schleuderte sie gegen einen Felsen. Sie blieb liegen. Lautlos schrie der Mann auf sie ein. Die Hände in die Seiten gestemmt, stand der andere mit wutverzerrtem Gesicht daneben.
    Das letzte Stück ging Jonas langsam. Einige Meter vor den dreien blieb er stehen, keuchend, nach vorne gebeugt, mit pochenden Kopfschmerzen und brennender Kehle, mit zerrissener Hose und blutigem Knie. Sein Herz schlug schnell, doch wieder regelmäßig. Er hustete. Es roch nach Schwefel. Er spürte die Elektrizität in der Luft, ohne sie zu fürchten. Er sah die transparenten Bauersleute vor sich, den Zorn der Männer, die Angst der Frau, doch er hörte keinen Ton, nichts als Donner und Summen und Wind.
    Wieso bin ich hier? fragte er sie. Wieso sehe ich euch?
    Aber sie hörten ihn nicht. Und sahen ihn nicht.
    Sie hatten die Frau in eine Felsnische getrieben, aus der sie nicht entkommen

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