Das Leben der Wünsche
streichelte ihre struppigen Köpfe.
Papi? Was ist, wenn der Mann stirbt? Müssen wir dann auch sterben?
Wovon redest du?
Wenn der Mann stirbt, fliegen wir in den Himmel und kommen nie wieder nach Hause!
Welcher Mann? Karo?
Ich sterbe aber nicht, sagte Karo. Das ist verboten!
Unbeirrt zeigte Tom auf den Ballonführer. Was ist, wenn er stirbt? Fliegen wir dann in den Himmel?
Müssen wir dann sterben? fragte Chris.
Mit gewohnheitsmäßigen Bewegungen strich Jonas über ihre Köpfe. Er schaute über sie hinweg nach unten. Er nahm die Felder unter sich wahr, die Streifen, auf denen sich Punkte bewegten, die unbeweglichen Punkte, älter als er selbst. Vor seinen Augen begann alles zu tanzen.
Er merkte, wie sich die Zeit verlangsamte. Töne drangen langsamer an sein Ohr, als frören sie ein. Stimmen schienen zu zerfließen. Was unter ihm war, Tiefe, was um ihn war, Luft, verlor den letzten Sinn. War in einer Sekunde neben ihm und in der anderen weit weg.
In seinem Kopf eine Stimme. Er verstand nicht, was sie sagte. Er sah das Blau des Himmels, das sich von ihm abwandte, sah den Korb, dicht vor seinen Augen, und dann sah er nichts mehr.
22
Warum hast du nichts bemerkt, fragte Anne, was denkst du? Das ist ja über eine lange Zeit gegangen, so etwas nimmt man doch wahr!
Ich nehme an, dass ich etwas bemerkt, aber mit gutem Grund ignoriert habe. Außerdem war ich selbst abgelenkt.
Wie, du wolltest nichts davon wissen, dass deine Frau fremdgeht?
Na, das ist wohl bei vielen so. Das finde ich nicht so ungewöhnlich. Du willst doch nicht einmal von deinen Ärzten hören, wie es dir geht.
Bist du wirklich nicht wütend auf ihren Liebhaber? Was ist? Wieso schaust du so komisch? Was ist das für ein Blick?
Das kann ich nicht sagen, ich sehe mich ja nicht.
Sie wartete, doch er sah sie nicht mehr an, sondern bearbeitete Bierdeckel, faltete sie, zerriss sie, streute die Fetzen in den gläsernen Aschenbecher.
Mir gefällt es hier nicht mehr, sagte sie nach einer Weile. Gehen wir weiter?
Bist du nicht zu müde?
Mit mir ist alles in Ordnung. Wollen wir ein Stück in den Wald hinein?
In den Wald, sehr passend.
Anne überhörte seine Bemerkung. Er zahlte und folgte ihr zu dem Feldweg, der in einen dichten Mischwald führte, wo an den ersten Bäumen verwitterte Schildermit Tollwutwarnungen hingen. Es roch nach Pilzen, nach nassem Laub und fauligem Wasser. In der Nähe klopfte ein Specht. Unter ihren Schuhen knackten Zweige. Die Luft war deutlich kühler als vor dem Rasthaus, und sie zogen ihre Jacken über. Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander.
Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, sagte sie. Zu sterben –
Nun hör doch damit auf!
Lass mich weiterreden! Zu sterben und in einer Welt wiedergeboren zu werden, die der unseren so fremd ist, dass wir nicht das Geringste davon verstünden, wenn wir sie für einen Moment sehen könnten.
Er sagte nichts, und so setzte sie fort:
Mir geht es gut, und ich frage die Ärzte wirklich nie. Und sie sagen nichts. Da weiß ich, woran ich bin. Die ständige Müdigkeit ist lästig, aber mir tut nichts weh. Soll ich mich verrückt machen? Alles, was ich tun kann, ist, positiv zu denken und zu warten. Krebs ist etwas, das wir Menschen nicht verstehen können. Es ist etwas aus einer anderen Welt. Einer anderen Dimension. So wie Käfer DDT nicht verstehen. Ach – wie schön, sieh dir das an!
Rechts öffnete sich der Wald zu einer Wiese hin, auf der Klatschmohn so rot aufstrahlte, dass Jonas Lust auf üppiges Essen bekam. Anne pflückte ein paar Blüten. Jonas steckte sich eine ins Knopfloch. Sie gingen weiter.
Ich bin da oben tatsächlich ohnmächtig geworden, sagte er, das verstehe ich noch immer nicht. Dass es einen schwindelt, dass einem mal schwarz vor Augen wird, das kennt man, das kommt vor. Aber wenn du wirklich das Bewusstsein verlierst – unheimlich ist so etwas.
Warst du beim Arzt? Wenn man ohnmächtig wird, geht man zum Arzt.
Ich nicht, sagte er. Ich wurde eben ohnmächtig. Warum, weiß ich nicht.
Vielleicht wissen es die Ärzte. Vielleicht hast du niedrigen Blutdruck. Mangelerscheinungen, Ernährungsfehler, Kreislaufschwäche …
Ich tippe auf die Mangelerscheinungen.
Er holte den Zeitungsausschnitt aus der Tasche. Die Stelle hier passt gut zu dem, was ich dir vorlesen möchte.
Eine E-Mail von Marie? fragte sie.
Einen makabren Fund machten Pilzesammler am Samstag, als sie in blabla … auf eine männliche Leiche stießen. Ermittlungen der Polizei ergaben,
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