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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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und leere Plastikflaschen. Es stank. Graffiti an den Mauern, ein Garagentor, auf das ein Hakenkreuz gesprayt war. Eine kaputte Gitarre, die an einer Plakatwand lehnte. Katzen, die sich um Abfälle balgten, bisweilen glitt der schwarze Schatten einer Ratte die Mauer entlang.
    Hier wohnt der Schah, sagte Jonas.
    Wie man sieht, sagte Marie.
    Sie trat ein paar Meter zurück. Ein Auto fuhr vorbei, aus dessen offenen Fenstern Popmusik wummerte.
    Was ist das hier für dich? fragte Marie.
    Dreck, sagte er.
    Das meine ich nicht. Was siehst du hier wirklich? Was bedeutet es für dich?
    Dieses Haus, die Wohnung da oben? Das ist, woher ich komme.
    Und?
    Hier wartet nichts auf mich. Oft versetzt man sich in seine Kindheit und Jugend zurück wie an einen Ort, an dem unverrückbar alles am richtigen Platz steht, und daraus resultiert mitunter das Missverständnis, man könne zurück. Erstens kann man nicht zurück, und zweitens steht in niemandes Kindheit alles am richtigen Platz. Wasdas hier für mich ist? Genau das: der Ort, an dem nichts auf mich wartet.
    Marie nickte. Wollen wir hinaufgehen?
    Er blieb stehen, er konnte sich nicht aus seinen Gedanken befreien.
    Ein Rätsel ist es, sagte er. Dunkelheit.
    Das ist es für uns alle. Was ist es für dich im Besonderen?
    Ich meine es anders, sagte Jonas und nahm die Wohnungsschlüssel aus dem Handschuhfach. Mein Großvater lebte schon hier. Er war Bankbeamter. Über ihn weiß ich einiges. Das Leben des Großvaters meines Großvaters liegt bereits im Dunkeln. Mein Opa wusste noch, was sein Opa für ein Mensch war, wie er gelebt hat, ich weiß über diesen Menschen nichts. Ich weiß nicht einmal seinen Namen, und es ist, als hätte er nie gelebt. Und die Urgroßeltern des Großvatergroßvaters? Was waren die? Und zehn Generationen vor denen? Fünfzig? Die Pest, Heinrich der Achte, Kolumbus? Pfeile kreuz und quer auf der Karte Europas, und kein Pfeil weiß vom anderen, obwohl jeder zumindest für ein ganzes Leben steht? Ein Rätsel. Es macht mich nervös.
     
    Darf ich vorgehen? fragte Marie. Ohne Licht zu machen?
    Das funktioniert sowieso nicht mehr. Aber warum?
    Ich will schnuppern!
    Als sie eintraten, erlosch das Licht im Treppenhaus. Der Flur, in dem sie standen, war stockfinster. Jonas drückte die Wohnungstür zu. Er fühlte Maries Lippen an der Wange, gleich darauf hörte er ein Knarren.
    Wo steckst du?
    Auf der Toilette!
    Er hörte sie kichern. Er kontrollierte den Anrufbeantworter. Keine Nachricht. Den Hörer legte er neben die Gabel.
    Er ließ die Balkontür offen, um zu hören, was in der Wohnung vorging. Die Luft war feucht, beinahe seifig. Hinter sich in der Wand rauschte die Toilettenspülung, danach das Wasser im Waschbecken. Schritte entfernten sich.
    Im Garten fand ein erbitterter Kampf zwischen Katzen statt. Eine Tür wurde geöffnet, ein Sportreporter lachte künstlich auf, verstummte. Aus der Wohnung drang hin und wieder ein Knarren.
    Er dachte: Die, die da drinnen umhertappt, gab es schon, als ich hier Kind war, auch sie war Kind und kannte nicht das hier und nicht mich. Sie hatte ein anderes Hier, ein anderes Heute, das ihr gehörte. Und nun ist sie da.
    Er sah: Frühstück. Radio. Mutter, Vater. Hausaufgaben, Freunde, Familienfeste. Hier stattgefunden. Weg.
    Er erschrak, als Marie plötzlich aus dem Dunkel neben ihm auftauchte.
    Das ist eine alte Wohnung, sagte sie. Man merkt, dass hier schon viel gelebt wurde.
    Setz dich zu mir, bat er, und sie setzte sich auf seine Knie.
    Es ist schwül, sagte sie und lüftete ihre Bluse. Noch nie war ein Sommer so lang. Seit wann, sagst du, lebt hier niemand?
    Mein Vater ist seit fast einem Jahr im Heim.
    Seltsam. Es fühlt sich an, als würde noch jemand hier leben.
    Er legte den Kopf an ihren Rücken. Sie sprach, doch Jonas verstand nicht, was sie sagte, er schmiegte sich ansie und genoss die Resonanzen, die ihre Stimme in ihrem Körper erzeugte. Er hielt sie umschlungen, roch ihren Duft und dachte daran, wie er sie früher im Hotel gehalten hatte, ihren Schenkel oder Arm, wie er den Kopf an ihre Hüfte gelegt hatte, so bewusst wie möglich, um sich zu Hause in seinem Bett neben Helen daran zu erinnern, wie es war, Marie zu spüren.
    Es läutete.
    Es war sein Mobiltelefon.
    Das kann nicht sein, dachte er. Der Akku ist leer, das Handy ausgeschaltet. Das hier ist Maries Schenkel. Ist Maries Rücken. Ich bin hier. Und sie ist hier. Ich rieche sie. Ich fühle sie. Das sind wir.
    Es läutete erneut. Er bewegte sich nicht. Mit

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