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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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geschlossenen Augen lehnte er an Maries Rücken und fühlte ihre Wirbel unter seiner Wange. Er konnte sich auch getäuscht haben. Das Läuten war vielleicht nicht aus seiner Jacke gedrungen, die über dem Stuhl hing. Vielleicht hatte Marie denselben Klingelton.
    Es läutete.
    Willst du nicht mal rangehen? fragte sie.
    Er zog das Handy aus der Tasche und sah aufs Display. Anonymer Anruf. Er lehnte ihn ab. Er zerlegte das Telefon. Die SIM-Karte spülte er in der Toilette hinunter, das Telefon selbst schoss er in die Nacht hinaus. Sekunden später hörte er den dumpfen Aufprall im Gras.

4
    Wohin sie fuhren, brauchten sie nicht zu bereden: Richtung Meer.
    Sie machten lange Pausen, wo immer es ihnen gefiel. Sie fuhren Umwege, um Schlösser oder Tempel zu besichtigen, sie hielten an Seen, sie legten sich in die Sonne, und vor allem blieben sie in Dörfern stehen, um sich an Verkaufsständen umzusehen.
    Einem Alten mit Haifischgebiss und Fliegen um den Kopf kaufte Marie einen Strohhut ab, der ihr so gut stand, dass der Alte unangenehm mit der Zunge schnalzte und von seiner Tochter zu schwärmen begann. Weil er offenbar sonst nichts hatte, was er Marie schenken konnte, nötigte er ihr eine Tube Babysonnenmilch auf, die offensichtlich schon lange in seiner Ausstellungskiste gelegen hatte und dabei immer wieder mit Mahlzeiten des Standbesitzers in Kontakt gekommen war.
    Nebenan kaufte Jonas Wasser und Obst. Er legte alles ins Auto und ging mit offenem Hemd zu der Telefonzelle, die er hinter den Verkaufsständen entdeckt hatte.
    Kommst du uns besuchen? fragte Tom.
    Das nicht, aber wir sehen uns in einer Woche! Habt ihr schon einen Berg bestiegen?
    Drei! Acht!
    So viele? In einer einzigen Woche? Waren sie hoch?
    Sehr hoch! Sooooo – hoch!
    Ist Oma brav? Oder muss ich mit ihr schimpfen?
    Tom kicherte. Ja! Nein! Ja! Bringst du uns etwas mit?
    Irgendetwas besorge ich bestimmt für euch. Gib mir mal Chris!
    Gemurmel, Rauschen, dann hörte Jonas: Ich habe mit einem Löwen gekämpft! Und heute sehen wir einen gefährlichen Vogel!
    Lea erzählte ihm, es gebe in der Nähe ihrer Unterkunft einen Wildzoo und außerdem einen Falkner, den sie am Nachmittag besuchen wollten.
    Essen, was ist damit? Weigern sie sich?
    Sie verlangen zweite und dritte Portionen. Die Höhenluft macht Appetit!
    Auch Annes Telefonnummer wusste er auswendig. Sie war gerade in einem Laden an der Kasse und bat ihn, in zwei Minuten anzurufen. Er stellte sich vor die Zelle und beobachtete Marie, wie sie in ihren Flip-Flops von Stand zu Stand klapperte, Badetücher prüfend zwischen den Fingern rieb, Bikinis sondierte und mit den jungen Verkäuferinnen redete. Mehr sah Jonas nicht, er ging wieder hinein und drückte auf Wahlwiederholung.
    Ich habe mit Siad Schluss gemacht, sagte Anne.
    Wieso freut mich das, dachte er.
    Wirklich? fragte er. Wieso?
    Übermorgen kommt meine Mutter. Wir fahren zwei Tage nach Hause. Meine Schwestern kommen auch. Nächste Woche bin ich wieder da.
    Wann ist die nächste Untersuchung?
    Jonas, es gibt keine Untersuchung mehr.
    Was heißt das, fragte er, obwohl es ihm klar war.
    Aber es geht mir gut. Keine Schmerzen. Wann kommst du zurück, in einer Woche? Ein Tag ist für dich reserviert. In zwölf Tagen gehe ich in das Hospiz.
    Auf dem Weg zurück zum Auto wischte er sich die Augen. In seiner Kehle brannte es, und er holte mit weit geöffnetem Mund langsam Atem, um nicht von dem Drang zu weinen überwältigt zu werden.
    Beim Einsteigen setzte er sich auf die Weintrauben. Er suchte den Zündschlüssel, der steckte. Er fuhr in die falsche Richtung und musste in einer Querstraße wenden, wobei er den Wagen mit dem Hinterreifen halb im Graben versenkte und beim anschließenden Versuch, wieder freizukommen, die Grasnarbe verwüstete.
    Du guter Gott, was ist denn mit dir los?
    Er hatte vorgehabt, Marie nichts zu erzählen, um ihr nicht die Stimmung zu verderben. Nun aber merkte er, dass er auf die Frage nur gewartet hatte. Es kam von allein, die ganze Geschichte von Anfang an. Von den ersten Behandlungen, der Freude, als sie glaubten, es sei überstanden, bis zur Betroffenheit, als der Krebs zurückgekommen war, und dem Entsetzen, als sie sahen, wie stark er war.
    Wie lange wart ihr zusammen?
    Sechs oder sieben Jahre. Ich sage sechs. Sie sagt sieben. Unter Tränen lachte er.
    Du kannst nichts tun, sagte Marie, nachdem sie einige Dörfer durchfahren hatten, ohne zu reden. Du kannst nur trauern. Aber Trauer muss ihren Platz haben, zeitlich und

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