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Das Leben der Wünsche

Das Leben der Wünsche

Titel: Das Leben der Wünsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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geliebte Menschen sterben, Städte nachts unter Wasser stehen, Leute im Wald von Tieren zerhackt werden und er selbst frei im Weltall schwebt?
    Ja, Stalin!
    Bleib ernst! Würde das jemand wollen?
    Eher nicht.
    Eben. Nur Stalin. Deshalb geschehen diese Dinge, wenn sie geschehen, zufällig. Richtig?
    Du sprichst von dir? Du schwebst im Weltall?
    Quatsch, du siehst mich ja vor dir. Ist das nun alles Zufall, ja oder nein?
    Sie imitierte mit starrem Blick eine Computerstimme: Ich habe nicht genug Informationen.
    Mehr Informationen gibt es nicht, weil ich um den Gedanken herumdenken muss.
    Angenehm kühl spürte er ihre Hand im Nacken. Er gab ihrem Druck nach und legte die Stirn gegen ihre.
    Ach, Jonas. Wo bist du schon wieder?

7
    Die ersten Orte am Meer gefielen ihnen nicht. Marie fand die Architektur grob und touristisch, Jonas störten die vielen Spielhallen. Sie landeten in einem Dorf, in dem es nicht viel mehr gab als eine Tankstelle, einen Lebensmittelladen und eine heruntergekommene Ponyranch. Über Vermittlung des Tankwarts bekamen sie ein Zimmer in einem Haus, an dem kein Schild auf Vermietung hinwies.
    Am Morgen frühstückten sie an der Tankstelle. Ab und zu fuhr ein Wohnmobil oder ein Auto mit Campinganhänger vorbei. Dicke Fliegen machten sich über die fettigen Teller her, doch wenn der Tankwart herauskam, unterhielt er sich bloß mit Marie, ohne Anstalten zu machen, den Tisch abzuräumen. Unwillkürlich sah ihn Jonas mit einem großen Loch im Gesicht.
    Das ist schon ganz nett, sagte Marie. Aber es ist noch nicht das Richtige.
    Einige Stunden fuhren sie die Küste entlang, das Meer in Sicht oder wenigstens als eine Ahnung hinter Hügeln gegenwärtig. Zuweilen schien es regnen zu wollen, doch der feuchte Wind, der vom Meer kam, vertrieb die Wolken wieder. Mal wand sich die Straße in engen Kurven einen kargen Berg hinauf, mal bot sie Gelegenheit, etwas schneller zu fahren. Sie wechselten sich am Steuer ab, und sie rasten beide.
    Hinter einer Kuppe kam eine Tankstelle mit drei derhöchsten Reifenstapel, die er je gesehen hatte, sie überragten sogar das Dach, und er fragte sich, wie die Säulen stabil blieben. Marie lachte bei ihrem Anblick laut auf. Er wollte einen Witz machen, doch plötzlich, von einem Moment auf den anderen, war er wieder umfangen von schwarzem Nichts.
    Rechts vor sich sah er den Mond. Weit unter ihm, viel weiter entfernt als beim ersten Mal, war die Erde. Es gab keine Bewegung, weder in ihm noch um ihn. Endlose Schwärze. Alles war still. Er hatte das, was in ihm war, und sonst hatte er nichts, denn da war nichts, um ihn war nichts mehr, und ihn erfüllte neben seinem Entsetzen das Wissen, dass zu dem, was in ihm war, nichts mehr hinzukommen konnte. Einen Moment darauf saß er wieder im Auto.
    Hast du etwas bemerkt? schrie er Marie an.
    Er hielt an der Tankstelle. Hast du gerade etwas bemerkt? An mir?
    Dass du schreist. Was um alles …
    Er hörte sie nicht. Auf wackligen Beinen, mit selbst erzwungener Leere im Kopf ging er zur Zapfsäule. Nichts denken. Nichts denken.
    Er tankte, Benzinschwaden unter der Nase, die Zähne fest zusammengebissen. Salziger Wind blies ihm die Haare ins Gesicht. Sein Herz hämmerte dumpf, als ob es nicht zu ihm gehörte, und sein Schweiß roch scharf, als sei er krank. Er schlug den Kragen hoch, obwohl es so warm war, doch er wollte fühlen, er wollte etwas Festes auf seiner Haut fühlen.
    Auf dem Weg zur Kasse versuchte er sich zu erinnern, was er gesehen hatte. Hatte er überhaupt etwas gesehen? Oder war es vielmehr einfach da gewesen? Der Mond? Die Erde? Die Schwärze? Nichts sonst? Außer ihm?
    Was ist los? fragte Marie.
    Mir ist übel.
    Der Speck zum Frühstück, sagte sie. Die Tankwartfinger!
    Die Kombination, sagte Jonas und hielt Marie den Schlüssel hin.
     
    Eine halbe Stunde später, wo in der Umgebung kein Haus, keine andere Straße, nicht das geringste Anzeichen von Zivilisation zu erkennen war und die Ebene dürr bewachsen war mit verbrannten Sträuchern, musste Marie bremsen. Von rechts tanzte eine Gruppe bekränzter Mädchen in wirbelnden Kleidern auf die Straße. An den Armen eingehakt, streuten sie singend Blumen und lächelten Marie und Jonas zu.
    Hier ist doch nichts, sagte Marie. Woher kommen die? Und wohin wollen sie?
    Die Mädchen hatten keine Eile. Sie wiegten sich in den Hüften, drehten sich im Kreis, warfen die Arme hoch und schickten Kusshände in alle Richtungen, ehe sie links einen schroffen Hang hinabtanzten. Auf ihrem Weg war

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