Das Leben der Wünsche
erlebte, keine Einbildung war, kein Traum, keine verstiegene Vision, sondern die Realität, das Hier und Jetzt. Er war über der Erde.
Die Rückkehr erlebte er nicht bewusst. Er saß wieder in der Wiese, als sei nichts geschehen. Alles um ihn war blendend hell.
Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, sie brannten.Vor ihm lag die Karte mit dem Grashüpfer. Hinter ihm drehte sich Marie auf die andere Seite, sodass der Sarong verrutschte und ihr nackter Po zum Vorschein kam. Er hielt sich den Kopf, schloss wieder die Augen und presste Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfen. Er fühlte seinen jagenden Puls. Gern hätte er aufgeschrien, um sich aus seiner Starre zu lösen, doch er brachte nur ein ersticktes Winseln zustande.
Er wollte Marie wecken. Unmöglich, sich umzudrehen und hinüberzulangen.
Er spuckte aus. Die Spucke fiel ins Gras. Unten war unten. Oben war oben.
5
Für die Nacht nahmen sie sich ein Zimmer in einer billigen Pension. Marie ging unter die Dusche. Jonas besorgte beim Vermieter eine Flasche Wein und zwei Gläser. Als er zurückkam, hatte sie zwei Striche von weißem Pulver auf dem Tisch vorbereitet.
Marie machte die Flasche auf. Jonas kam ein Gedanke, so überraschend, dass er aufzuckte.
Was ist los? fragte Marie.
Mir ist etwas eingefallen.
Darf ich es erfahren?
Es ist ganz belanglos für dich. Mir fiel nur gerade ein, dass ich Anne nie gefragt habe, wer der eine Mann war.
6
Während Marie am Morgen mit ihrer Mutter telefonierte, stellte er sich nackt auf den Balkon. Es ging ihm nicht allzu gut, er hatte einen schweren Kopf, und er fühlte eine ungreifbare, gesichtslose Angst. Vielleicht entsprang sie dem vergangenen Abend, war eine direkte Folge dessen, was er seinem Körper zugeführt hatte. Aber er glaubte es nicht.
Es roch üppig nach Land, nach Heu und Vieh. Unter ihm muhten Kühe im Stall. Auf der anderen Seite des Tals tuckerte ein Traktor über einen steilen Hang. Die Landstraße war nicht zu sehen, ab und zu jedoch hörte man ein leises Brausen. Wespen summten um den Dachfirst, Vögel riefen. Die Sonne hatte bereits Kraft. Nach ein paar Minuten wich Jonas in den Schatten zurück.
Er sah einer Gruppe ländlich gekleideter Menschen zu, wie sie hintereinander am Straßenrand marschierten. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zur Kirche. Bald kamen die nächsten. Die Kinder trugen Hemden, die unbequem aussahen, Jonas fühlte beinahe selbst den kratzigen Kragen. Die alten Frauen hatten Kopftücher. Alles marschierte in Reih und Glied. Die Kinder taten Jonas leid.
Je länger er hinsah, desto mehr taten ihm auch die Erwachsenen leid.
Kennst du das Problem, einen Gedanken nicht denken zu wollen? fragte er nach hinten.
Das geht mir die ganze Zeit so, rief Marie und schlüpfte in ihre Shorts. Und da brauche ich gar nicht an meine unbezahlten Rechnungen zu denken, es genügt schon, in einer Restauranttoilette zu stehen.
So meine ich es nicht. Ich meine es buchstäblich, wie ich es sage. Ich denke um einen Gedanken herum. Er ist da, das weiß ich, aber ich will mit ihm nichts zu tun haben.
Den will ich hören! Was ist das für ein Gedanke?
Seit ein paar Wochen geht das so. Ich lasse ihn nicht zu. Ich sehe ihn, und – aus! Weg! Schwarz ist der Bildschirm! Du kennst ja das Gedankenspiel: Du denkst dir, diese Sache wirst du Person XY sagen, und dann denkst du dir, du wirst dann daran denken, dass du damals, jetzt also, dir schon vorgestellt hast, wie es sein würde, es XY zu sagen, und dann denkst du dir, du wirst dich daran erinnern, dass du sogar das dir damals, jetzt also, schon gedacht hast, und so weiter und so weiter?
Das kenne ich allerdings, sagte Marie, aber so wie du es erzählst, klingt es mehr nach einer Zwangsstörung.
Jedenfalls erlebe ich genau das gerade, in dieser Sekunde. Ich erwähne den Gedanken, um den ich herumdenke, und denke daran, wie ich daran dachte, ob ich wohl jemals jemandem davon erzählen würde, und wenn ja, ob du es sein würdest. Und denke daran, dass ich daran dachte, dass ich daran dachte, ob ich dir erzählen würde, dass …
Bitte, komm endlich auf den Punkt!
Seit ein paar Wochen denke ich weg, sowie der Gedanke auftaucht. So wie man wegsieht, wenn man auf der Straße Zeuge eines Unfalls mit schaurigen Details wird, oder wenn auch nur im Restaurant jemand unappetitlich isst, so denke ich weg.
Ruf sie an!
Wen?
Anne!
Ich rede nicht von Anne, es hat nichts mit Anne zu tun!
Womit also?
Glaubst du, fragte er, jemand würde wollen, dass
Weitere Kostenlose Bücher