Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
der Oberfläche absetzte und die Ufer trocken und rissig wurden.
Wir mussten alle mithelfen – auch meine Schwestern, die das nur widerwillig taten, und meine Mutter – und die Bewässerungsrohre jeden Tag verlegen. In früheren Sommern hatte es mir Spaß gemacht, mit den nackten Füßen durch den Schlamm zu stapfen. Aber in diesem Jahr hatte niemand Freude daran, Tag für Tag die Rohre zu den verschiedenen Feldern zu schleppen, um die Pflanzen am Leben zu erhalten. Wir mussten die Aluminiumrohre so hoch wie möglich tragen, vor allem in den Maisfeldern, um die Stauden nicht zu beschädigen, und kehrten allabendlich mit schmerzenden Armen ins Haus zurück.
Und trotz unseres Einsatzes war die Ernte eine Katastrophe. Nicht nur die Erdbeeren, sondern auch Tomaten, Brokkoli, Bohnen und Gurken. Wir verdienten nur halb so viel wie gewöhnlich, und es war kein Geld übrig für nötige Reparaturen an der Scheune oder am Traktor und auch nicht für meine Schulsachen und den großen Kasten Ölpastellkreiden, den ich mir sehnlich wünschte. Der Samenvertrieb, bei dem wir bislang immer anschreiben konnten, teilte uns im Oktober schriftlich mit, dass man uns im nächsten Jahr angesichts der unbezahlten Rechnungen nur noch gegen Vorkasse oder Direktbezahlung Saatgut verkaufen könne.
Dann kam der 22. November. Meine Mutter machte gerade Karamellbonbons für den alljährlichen Kirchenbasar. Mein Vater erntete auf den Maisfeldern die letzten dürren Stauden. Meine Schwestern waren in der Schule, aber ich hielt mich zuhause auf, weil ich erkältet war. Meine Mutter hatte in der Küche das Radio eingeschaltet und stieß plötzlich einen Schrei aus, wie ich ihn noch nie zuvor bei ihr gehört hatte.
»Ich muss deinen Vater holen«, sagte sie und nahm den Kochtopf mit der Karamellmasse vom Herd, obwohl man in diesem Stadium dauernd rühren musste.
Danach kamen die beiden ins Haus zurück und erzählten mir, was passiert war. »Gott muss etwas mit ihm im Sinn haben«, sagte meine Mutter, was ich nicht verstand.
An diesem Abend sprachen wir ein Gebet für die Kennedys. Den Topf mit den halb fertigen Karamellbonbons hatte meine Mutter auf dem Tisch stehen lassen; nie zuvor hatte ich erlebt, dass sie ein Gericht nicht fertig kochte.
Die Beerdigung schauten wir alle im Fernsehen an. Meine Mutter saß auf ihrem Stuhl vor unserem Schwarz-Weiß-Fernseher mit dem runden Bildschirm und schüttelte den Kopf, während der Trauerzug auf der Pennsylvania Avenue und dazwischen immer wieder Bilder von Jackie und den Kindern gezeigt wurden. Obwohl Jackie Kennedy Demokratin und obendrein Katholikin war, verehrte meine Mutter sie ebenso sehr wie Dinah Shore. Jackie Kennedy war vermutlich das einzige Thema, bei dem Val Dickerson und meine Mutter einer Meinung gewesen wären.
»Die arme Frau«, sagte meine Mutter. »Was soll sie jetzt nur machen?«
»Das sind Millionäre, Connie«, erwiderte mein Vater. »Sie haben eine Villa auf Cape Cod und Diener und den ganzen Kram. Diese Kinder müssen nicht in Lumpen gehen.«
Nicht so wie wir, dachte ich damals. Wegen der schlechten Ernte, den Zinsen für den Kredit, den mein Vater hatte aufnehmen müssen, und einer kranken Kuh, die eine hohe Rechnung beim Tierarzt verursachte, hatte mein Vater den altehrwürdigen Model T Ford verkaufen müssen, mit dem wir zu besonderen Gelegenheiten am Sonntag Ausflüge gemacht hatten. Zu Weihnachten, hatten uns die Eltern gesagt, konnten wir uns je ein Kleidungsstück aus dem Bestellkatalog aussuchen – entweder einen Pullover oder einen Rock.
Und was sollte sie dann unten anziehen, wenn sie sich einen Pulli aussuchte?, wollte meine Schwester Sarah wissen.
»Ihr müsst eure Sachen eben tauschen«, antwortete meine Mutter. »Ihr habt ja ganz ähnliche Größen, das geht schon.« Wie häufig bei ihr, schloss diese Bemerkung mich aus. Nicht ein einziges Kleidungsstück, das für meine Schwestern angeschafft wurde, passte mir, der Bohnenstange.
Im nächsten Jahr fiel die Ernte besser aus, doch dafür entstanden neue Probleme. Früher gab es das Obst und Gemüse, das wir verkauften, nicht in den Supermärkten, aber nun begannen die großen Ketten auch das anzubieten, wofür man früher zur Plank-Farm gefahren war: andere Salatsorten außer dem üblichen Eisbergsalat, interessante Melonen und frische Erbsen. Weil die Supermärkte auf dem Großmarkt einkauften, konnten sie die Preise niedriger halten als wir. Und wer im Supermarkt einkaufen ging, fand dort auch Dinge, die
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