Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)
Badeanzug an. Mein Vater zog seine Latzhose und sein T-Shirt aus. Darunter trug er nur seine Boxershorts. Dann schnappte er sich das Seil, nahm Anlauf und ließ sich ins Wasser fallen.
Doch ich schaffte es nie, das Seil loszulassen, sosehr ich mir das als einzige Schwimmerin der Familie auch wünschte. Ich konnte mich übers Wasser schwingen, aber wenn ich das Seil loslassen sollte, bekam ich Angst.
Der Sommer, in dem ich fünfzehn wurde, war so heiß, dass es nach Sonnenuntergang noch über dreißig Grad hatte und es schon morgens eine Qual war, sich überhaupt anzuziehen und die Zähne zu putzen. Sogar meine Mutter verzichtete darauf, Brot zu backen und Bohnen zu kochen, weil wir alle ohnehin nur Eis am Stiel essen wollten.
Eines Tages fuhr sie nach Concord zum Arzt wegen eines »Frauenproblems« – mehr sagte sie nicht dazu. Meine Schwestern begleiteten sie, um nach den Ferien Sachen für die Schule zu kaufen, aber ich beschloss in letzter Minute, nicht mitzufahren. Es war einfach zu heiß.
Ich war also alleine zuhause, an einem Montag; montags blieb unser Verkaufsstand geschlossen.
Ich hatte schon seit Langem einen menschlichen Körper zeichnen wollen, aber da ich keinen richtigen Kunstunterricht gehabt hatte, fehlte mir die Erfahrung, an einem Modell zu arbeiten. An diesem Tag nun kam mir die Idee – vielleicht lag es an der Hitze –, mich splitternackt auszuziehen und mich vor dem Spiegel selbst zu zeichnen.
Ich ging in das Zimmer, das ich mit meiner Schwester Winnie teilen musste, und zog mich aus. Dann setzte ich mich mit meinem Block vor den großen Spiegel und fing an.
Damals versuchte ich mich zum ersten Mal am Aktzeichnen. Später habe ich etwas Wichtiges gelernt: Wenn man einen nackten Körper mit dem Blick des Künstlers sieht, nimmt man nur seine Form wahr, ungeachtet all der Dinge, die für gewöhnlich als Makel gelten. Auch die Bauchfalten einer dicken Frau wirken schön, wenn man sie zu zeichnen versucht. Die eingefallene Brust, die schlaffen Beine oder Pobacken eines alten Mannes betrachtet man eher mit Nachsicht. Alter ist nicht hässlich, sondern anrührend.
Als ich an diesem unerträglich heißen Tag vor dem Spiegel saß und meinen knochigen Körper studierte, empfand ich mich nicht als Mädchen, das zu groß und zu dünn war und zu kleine Brüste, einen zu langen Hals und jungenhaft schmale Hüften hatte. Sondern ich nahm mich als Kunstwerk wahr, stellte mir ein Porträt von mir in einem Museum vor. Und diese Vorstellung war nicht peinlich, sondern aufregend.
Ich betrachtete mich genau, jedes Detail meines Körpers: die Linien meines Schlüsselbeins, meiner Rippen, die Rundung meiner Wade, die Muskeln an meinen Armen, die stark geworden waren, weil ich den ganzen Sommer lang hart gearbeitet hatte. Ich skizzierte meine Nase – den geraden Rücken, die Nasenflügel, die sich über meinem erstaunlich breiten Mund weiteten. Oft genug hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich selbst mit kritischen Augen gemustert. Doch an diesem Tag sah ich mich mit dem Blick eines Künstlers und stellte mir vor, wie die Maler, deren Gemälde ich in Büchern in der Bibliothek studiert hatte – Picasso und Matisse, Vermeer, van Gogh, El Greco oder Rembrandt –, mich wohl malen würden. Und mit dieser Vorstellung verwandelte ich mich in etwas, das ich noch nie zuvor gewesen war: etwas Schönes.
Ich beäugte meine Zehen, meine Finger, meinen Bauch und meine Schenkel, und jegliches Schamgefühl verflog und verwandelte sich in Faszination. Ich widmete mich dem Studium meines Körpers mit Leidenschaft, und die Künstlerin in mir empfand Achtung vor meiner Schönheit.
Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Spiegel saß, aber ich füllte viele Seiten meines Blocks. Es war jedenfalls noch hell draußen, und ich wusste, dass meine Mutter und meine Schwestern erst in ein paar Stunden zurückkommen würden und dass mein Vater bis Sonnenuntergang mit dem Traktor Heu mähen würde. Irgendwann war mir so heiß – nicht nur von der Hitze, sondern auch von meinem Zeichenexperiment –, dass ich beschloss, schwimmen zu gehen.
Normalerweise trug ich einen Badeanzug, aber an diesem Nachmittag wollte ich, dass das Wasser meine nackte Haut berührte. Als ich zum Luftholen auftauchte, hörte ich das Tuckern des Traktors auf der anderen Seite des Hügels. Ab und an muhte eine Kuh. Mücken tanzten über dem Teich, und ein Mückenflügel glitzerte im Sonnenlicht wie ein kostbares Juwel. Der Duft des frischgemähten
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