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Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Das Leben einer anderen: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben einer anderen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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Männer unter uns aufzuteilen und dabei nicht in Konkurrenz zu geraten.
    »Ich liebe diesen englischen Akzent«, schwärmte Angie. Hier konnte ich wahrheitsgemäß nicken, denn Honor Blackman sprach auch so.
    Hätte Val sich mehr für mich interessiert, hätte sie sich vermutlich irgendwann in meiner Jugend gefragt, weshalb ich nie einen Freund hatte. Manchmal riefen Jungen an, um sich nach den Mathehausaufgaben zu erkundigen und sich Rat zu holen wegen der Mädchen, in die sie verliebt waren. Tatsächlich war ich mit einigen Jungen gut befreundet. Ich glaube, sie spürten – bewusst oder unbewusst –, dass ich ihnen in vielerlei Hinsicht ähnlich war.
    »Meinst du, Lorena mag mich?«, fragte mich eines Tages Mike, während wir gemeinsam einen Versuch für Biologie ausführten: Wir schnitten Plattwürmer entzwei, um dann zu beobachten, wie sie sich nach einigen Tagen regenerierten.
    »Schon möglich«, antwortete ich. Tatsächlich fand ich Lorena auch toll, und ich dachte mir, es könne spannend sein, über sie zu reden – wenn ich auch nicht vorhatte, meine wahren Motive zu offenbaren.
    »Sie hat eine fantastische Figur«, sagte er. Dass er das mir gegenüber äußerte – einem Mädchen, das weit davon entfernt war, eine fantastische Figur zu haben –, empfand ich damals als eine Art Erfolg. Es war mir offenbar gelungen, so unweiblich zu wirken, dass Mike gar nicht mehr auf die Idee kam, eine solche Bemerkung könne mich kränken.
    »Cassie Averill sieht aber auch ziemlich scharf aus«, bemerkte ich.
    »Sie ist aber nicht so hübsch wie Lorena«, wandte Mike ein.
    »Hat aber die tollsten Titten«, sagte ich. Ich hatte den Gesprächen meines Bruders mit seinen Freunden gelauscht und wusste deshalb, wie Jungen redeten. Falls Mike diese Bemerkung von einem Mädchen sonderbar fand, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
    »Meinst du, die sind größer als die von Lorena?«, fragte er.
    »Keine Frage. Ich hab sie in der Umkleide gesehen.«
    Mike legte einen Plattwurm auf einen Objektträger und seufzte sehnsüchtig. »Wenn du nur mal eine Kamera reinschmuggeln könntest«, sagte er.
    »Ja, das wär was.«
    »Meinst du, Cassie mag mich?«, fragte er. Typisch Junge, in null Komma nichts bereit, seine Meinung zu ändern. Kaum war von Körbchengröße 85 B die Rede, war das Mädchen mit den 75er-Körbchen vergessen, für das er noch vor einer Minute geschwärmt hatte.
    »Hast du nicht gemerkt, wie sie dich in Geschichte anschaut?«, sagte ich.
    »Stimmt, jetzt, wo du’s sagst … ich werd sie mal fragen, ob sie mit mir ausgehen will.«
    »Aber versprich mir, dass du mir hinterher alles haarklein erzählst«, beschwor ich ihn. »Ich verlass mich auf dich.«
    Ich führte ein Ersatzleben damals – von den Jungen, mit denen ich befreundet war, ließ ich mir erzählen, was sie mit den Mädchen anstellten, in die ich verknallt war. Und dann hörte ich mir von denselben Mädchen an, was sie mit den Jungs gemacht hatten.
    Ich verliebte mich andauernd, aber niemand verliebte sich in mich. Ich war im Körper eines Jungen geboren, erfüllt von den Wünschen eines Jungen. Und weil wir das Jahr 1964 schrieben und niemand über so etwas sprach, hielt ich mich für den einzigen Menschen auf der Welt mit diesem Problem.

Ruth
    Loslassen
    M ein Vater erzählte mir einmal, als er noch klein war, hätten seine Brüder und er sich sehnlichst ein Schwungseil an unserem tiefsten Bewässerungsteich gewünscht – jenem Teich, in dem er und ich später immer schwimmen gingen. Doch damals waren alle Bäume am Ufer noch zu klein und dünn.
    An einem der anderen Teiche gab es eine junge Eiche, aber auch deren Äste waren damals zu schwach, um das Gewicht eines Jungen aushalten zu können.
    Als seine Brüder dann erwachsen waren und wegzogen, gründete mein Vater seine eigene Familie auf der Farm, und der Baum war inzwischen stark genug für ein Schwungseil. Doch mein Vater hatte keinen Sohn.
    Nach meiner Geburt gab er den Traum von einem männlichen Erben auf, nicht aber den Traum vom Schwungseil. In dem Sommer, als ich acht Jahre alt wurde, befestigte er eines an der Eiche.
    Meine Schwestern hielten sich davon fern, weil sie sich vor Wasser fürchteten. Doch ich ging in diesem Sommer und auch in den folgenden jeden Tag zum Teich. Am späten Nachmittag oder Abend, wenn ich meine Pflichten erledigt hatte, wartete ich an der Scheune auf meinen Vater, und wir wanderten mit Sadie über die Felder zum Teich.
    Ich hatte immer schon meinen

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