Das Leben in 38 Tagen
Sommer ein
schattiges grünes Dach über den Tischen und Stühlen bilden würden.
Das Schönste an Belorado jedoch war für
mich die sandsteinfarbene gotische Kirche mit einem
Glockenturm, wie ich ihn bisher noch nicht gesehen hatte. Dieser Glockenturm
erhob sich über dem wuchtigen Eingangsportal nicht breiter als eine Giebelwand
und erinnerte mit seinem Baustil an die Bürgerhäuser in nordischen
Hansestädten. Oberhalb des Kirchenschiffs waren in dieser Turmgiebelwand zwei
nebeneinander liegende abgerundete Fensteröffnungen eingebaut, in denen frei
schwingend die Glocken hingen. Darüber gab es in dem schmaler werdenden Turm
noch ein solches Glockenfenster, während es sich ganz oben auf der abgerundeten
Dreiecksspitze mehrere Storchenpaare in ihren Nestern gemütlich gemacht hatten.
Obwohl wir dieser Art Kirchen und den vielen Storchennestern später noch öfter
begegneten, fand ich, dass dieses beschauliche Bild besonders zu Belorado mit
seinen vielen alten Bäumen und den sandsteinfarbenen hübschen Häusern passte.
Die Kirche lag aber auch wunderschön;
gegenüber einem kleinen Bach und angelehnt an die Sandsteinfelsen im
Hintergrund. Rechts daneben befand sich die Pilgerherberge im gleichen
mittelalterlichen Baustil, die früher sogar als Theater der Pfarrei fungiert
haben sollte. An der linken Seite schloss sich ein parkähnlicher Garten mit
uralten Bäumen an, in dessen Hintergrund ein geheimnisvoll wirkendes
schlossähnliches Haus direkt in die Felsen hineingebaut war.
Von unserem Platz vor einem kleinen,
gemütlichen Café beobachteten wir die Störche auf dem Kirchturm, das An- und
Abfliegen der alten Störche und das Klappern der Jungen. Direkt neben uns
plätscherte der muntere Bach, wo Enten schwammen und Frösche quakten,
Kaffeegeruch drang aus den geöffneten Fenstern und wir fühlten uns wieder
einmal in eine andere Welt versetzt. Es war erst 9.30 Uhr und vor 10.00 Uhr
wurde hier kein Geschäft geöffnet und auch keine Kirche. Die wenigen Menschen,
die wir sahen, gingen langsam und grüßten freundlich. Es schien keine Hektik zu
geben, kein Hetzen, kein Jagen. Am liebsten wären wir noch eine Weile
geblieben, aber der Weg rief uns wieder und ich wollte ja ohne zu fahren am 18.
Mai in Santiago sein. Also hieß es wieder: Rucksack aufnehmen und laufen,
laufen, laufen... In meinem Reiseführer stand übrigens: „Hier letzte
Einkaufsmöglichkeit vor Burgos“, aber diese Stadt war noch fünfzig Kilometer
entfernt! Wie sollte man denn noch mehr über eine so weite Strecke tragen, wenn
einem der Rucksack schon täglich schwerer und schwerer erschien, oder wurden
nur die Füße und die Schultern immer müder? Auf die Flügel, die einem angeblich
irgendwann einmal wachsen sollten, wartete ich bis jetzt jedenfalls vergeblich.
Unweit vor uns leuchteten nun schon die
schneebedeckten Berge des Oca-Gebirges, in das wir uns morgen bis auf fast 1200
Meter hinaufwagen mussten. Deshalb hatten wir uns für heute nur siebzehn
Kilometer bis Villafranca vorgenommen, was ich schon anstrengend genug fand,
besonders in der heißen Mittagssonne.
Wir vier deutschen Frauen liefen ungefähr das
gleiche Tempo und doch ging jeder für sich. Edith, unsere Älteste, die nun
schon 2000 (!) Kilometer in den Beinen hatte, ging wie ein Uhrwerk, nicht so
schnell, aber immer gleichmäßig. Sie lief stets als Erste los, machte die
kürzesten Pausen und war oftmals erst am Abend in der Herberge wieder
anzutreffen. Sie wirkte nie euphorisch, sondern immer ruhig und besonnen. Von
allein fing sie selten an, zu erzählen, man spürte, dass sie es gewohnt war,
allein zu leben und für sich selbst zu entscheiden. Nach dem Tod ihres Mannes
vor fast zwanzig Jahren hatte sie in einer Fabrik gearbeitet und sich später
auf Wunsch ihres Sohnes, der Zimmermann gelernt hatte, ein altes Haus gekauft.
Dies war auch früher schon ein Traum zusammen mit ihrem Mann gewesen, den sie nun
mit ihrem Sohn in Angriff nehmen wollte. Bald darauf jedoch zog die Tochter in
eine andere Stadt, um zu studieren, und etwas später lernte auch der Sohn seine
spätere Frau kennen und zog zu ihr nach München. Dort machte er nun eine
Ausbildung zum Fluglotsen.
Nun stand Edith allein mit dem halb
fertigen Haus da, mit großen Schulden und fast ohne Hilfe, ständig mit der
Angst, es nicht zu schaffen und das Haus schließlich doch an die Bank zu
verlieren. Aber sie hatte sich inzwischen so damit identifiziert, dass sie es
nicht mehr verkaufen wollte. Mit ihrem
Weitere Kostenlose Bücher