Das Leben in 38 Tagen
starken Willen hatte sie es geschafft,
die Kinder allein großzuziehen, und damit schaffte sie es auch trotz vieler
Hindernisse und finanzieller Schwierigkeiten, das Haus zu einem Schmuckstück
herzurichten. Auf meine Frage nach einem anderen Mann in ihrem Leben antwortete
sie, dass es wohl genug Bewerber gegeben hätte, aber es sei keiner dabei
gewesen, mit dem sie ihre Gefühle so hätte teilen können wie mit ihrem ersten
Mann. Und einen Mann nur als Unterstützung, den brauchte sie nicht. Wer sie
kennen lernte, glaubte ihr das aufs Wort und wir drei anderen waren uns sicher,
dass sie es bis Santiago schaffen würde, obwohl auch sie über Fußprobleme
klagte.
Irene war eine hübsche, schmale Frau mit
dunklen Locken und stammte aus der Nähe von Frankfurt. Auch sie lief meistens
zielstrebig vornweg. Sie arbeitete als selbstständige Fotografin und machte
einen selbstbewussten Eindruck, ohne überheblich zu wirken. Sie erzählte sehr
wenig über sich, hatte mit 38 Jahren weder Kinder noch einen festen Freund. Die
Arbeit machte ihr Spaß, aber man hatte nicht den Eindruck, dass sie glücklich
war. Man spürte auch bei ihr, dass sie es gewohnt war, allein zu leben und zu
entscheiden. Irene kam schnell mit anderen ins Gespräch, aber ich vermeinte zu
spüren, dass sie genauso schnell das Interesse am anderen wieder verlor. So
wenig, wie sie selbst von sich preisgab, so wenig schien sie auch an tieferen
Gesprächen mit anderen interessiert zu sein. Aber das ist ja das Besondere auf
dem Camino: Dieser Weg lässt jeden so sein, wie er ist. Er stellt keine
Ansprüche, er bietet sich mit seinen gelben Pfeilen nur an und gibt jedem
Pilger die Möglichkeit, ihn auf seine eigene Weise zu gehen und zu erleben,
jeder kann frei entscheiden, wie weit er läuft, mit wem er läuft und in welchem
Zeitraum er läuft, wo er rasten und wo er übernachten will. Dieser Weg bietet
die absolute Freiheit für ein paar Wochen unseres Lebens...
Simone kannte ich schon am längsten und sie
war mir auf den ersten Blick sympathisch gewesen. Bei ihr spürte man die
liebevolle Fürsorge, die sie scheinbar von ihrer ganzen Familie und ihrem
Freundeskreis erhielt. Sie hatte an und in ihrem Rucksack viele kleine
Glücksbringer und beschäftigte sich oft mit ihrem Handy. Sie war auf einem
Bauernhof in der Nähe von Würzburg groß geworden und hatte noch zwei ältere
verheiratete Schwestern. Nach einer Ausbildung zur Kinderpflegerin fand sie
keine Arbeit, lernte um und fing in einem Sportartikel-Vertrieb im Büro an, wo
es ihr sehr gut gefiel. Nun hatte sie sich von ihrem Freund getrennt und die
Eltern wünschten sich, dass sie nach Hause zurückkommen und den Bauernhof
übernehmen würde. Über diese lebenswichtige Frage wollte sie unter anderem auf
dem Jakobsweg nachdenken. Und das spürte man bei ihr daran, mit welchem
Interesse sie die Dörfer, Felder und Bauernhöfe betrachtete. So blieb sie öfter
zwischendurch zurück, um sich genauer umzusehen und Fotos zu machen, um danach
wieder ein Stück umso schneller zu laufen.
Die teilweise verfallenen und ärmlichen
Dörfer, durch die wir seit gestern gingen, luden nicht gerade zu einem Leben
auf dem Bauernhof ein, aber es gab auch Ausnahmen. In Espinosa ,
einem kleinen Bergdorf zum Beispiel, hatte ein Schreiner aus einem alten
Bauernhaus eine Art Museum gezimmert, das nun als Herberge diente. Inmitten von
blühenden Bäumen stand das kleine, einladende Haus und wir sahen durch die
offenen Fenster hinein. Die Bienen summten, es roch nach Holz und überall
standen liebevoll geschnitzte und gedrechselte Figuren. Wir entdeckten einen
großen Esstisch mit karierten Deckchen und Blumen darauf und dunkel glänzenden
Holzstühlen darum. An der Wand hingen Holzregale mit buntem Geschirr und es gab
viele Vitrinen mit Krimskrams zu sehen. Im Hintergrund befanden sich zwei Schlafräume
für insgesamt zehn Pilger.
An diesem friedlichen Ort wäre ich gern
geblieben und hätte Pepe, den Schreiner, der alles so einladend hergerichtet
hatte, kennen gelernt, aber ich hatte nun mal meinen Zeitplan, den ich mir
selbst in freier Entscheidung auferlegt hatte! Also weiter und keine Müdigkeit
vorschützen! Ultreja !
Am Nachmittag erreichten wir Villafranca
Montes de Oca, unser heutiges Etappenziel. Der Name bedeutet in etwa
„französische Kleinstadt an den Oca-Bergen“ und deutet auf die Besiedlung von
französischen Einwanderern hin. Obwohl der Ort etwas im Tal lag, war er doch
schon über 900 Meter hoch und direkt
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