Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
man manches nicht mehr tun kann. Gezwungenermaßen. Das Leben treibt uns immer weiter voran, ohne Rastplatz, ohne Kreisverkehr zum Umdrehen.
Vorwärts, der Countdown läuft.
Aber man wacht nicht eines schönen Morgens plötzlich auf und ist alt, man wird es, und man hat genug Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Wir werden nicht hinterrücks davon überfallen, warum also erstaunt tun?
Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartet, dann hätte ich vielleicht zwei, drei Fallen umgehen können, und es gibt ein paar Sachen, die ich nicht gesagt, andere dagegen, die ich mit Bedacht öfter gesagt hätte. Vielleicht hätte ich besser lieben können, vielleicht hätte ich mich weniger aufgeregt über Dinge, die es nicht wert sind, und ich hätte das ganze Menü besser gewürdigt, aber alles in allem sage ich mir jetzt, wo ich beim Dessert angelangt bin – vielleicht sogar schon beim Kaffee, wer weiß? –, »wenn ich gewusst hätte«, hätte ich mein Leben genauso gelebt.
Und »wenn ich könnte«, würde ich nichts ändern – außer diesen juckenden Gips abzunehmen und heute Abend heimzugehen, um mir ein Abendessen zu kochen, das den Namen verdient. Sogar vollgepumpt mit Schmerzmitteln auf diesem verdammten Bett in diesem elenden Zimmer liegend, liebe ich das Leben, das ich gelebt habe.
Ich finde es in Ordnung, am Leben zu sein.
Ich bin noch nicht fertig mit der Inventur und habe fest vor, hundert Jahre alt zu werden.
M axime streckt sich, seufzt, massiert sich den Hals und die Schultern. Er gähnt wie ein Löwe, den Mund weit aufgerissen, Blick frei auf den rosa Gaumen.
»Einen harten Tag gehabt?«
»Pfff, eher eine harte Nacht. Wir haben bis um vier Uhr früh vor einem Mietshaus Wache geschoben, umsonst. Und um sechs hatten wir eine Hausdurchsuchung mit anschließender Festnahme. Ich bin völlig fertig.«
»Ihr Leben ist ja der reinste Krimi!«
»Na ja, mal mehr, mal weniger. In den Filmen gibt es zwei Stunden lang Action, und am Ende landen die Übeltäter im Gefängnis. Bei uns gibt es vor allem jede Menge Papierkram, vom Aufnehmen der Zeugenaussagen bis zu den Strafanzeigen, und stundenlanges Wacheschieben in Zivilautos. Es gibt die Dealer, die Taschendiebe, die Idioten, die ihre Frauen verprügeln, die, die Schutzgelder abzocken, all die, die wir mangels Beweisen wieder laufenlassen, und die, die von den Richtern Bewährung bekommen und gleich weitermachen können, weil alle Gefängnisse voll sind. Ganz zu schweigen von all denen, die wir nie erwischen. Wir sind keine Columbos, wissen Sie. Im wirklichen Leben haben wir es öfter mit miesen kleinen Zuhältern zu tun als mit Schwerverbrechern wie Mesrine oder Ferrara …«
»Aber mögen Sie Ihren Job im Großen und Ganzen oder nicht?«
»An den Tagen, wo ich ihn gut mache und ich das Gefühl habe, dass er etwas nützt, mag ich ihn.«
Er verstummt und verliert sich in tiefen Gedanken oder in den Nebeln des Schlafmangels.
Wir wechseln das Thema, das ist mir auch recht.
Maxime ist wirklich ein netter Kerl, und ich weiß schon: Man hasst die Bullen aus Prinzip, aber wenn man sie braucht, ist man erleichtert, dass sie da sind. Und doch bin ich misstrauisch, aus genetischen Gründen. Man wächst nicht mit einem linken Aktivisten als Vater auf, ohne eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Ordnungsmacht zu entwickeln.
Ich frage ihn: »Meinen Sie, Sie könnten Camille eine Nachricht übermitteln?«
»Dem jungen Mann, der Sie aus dem Wasser gefischt hat?«
»Genau dem.«
Er denkt nach.
»Wir haben seine Kontaktdaten im Polizeibericht, das dürfte nicht schwierig sein. Was soll ich ihm ausrichten?«
»Sagen Sie ihm nur, dass ich ihn gern sehen würde, wenn er Zeit hat. Versuchen Sie es diplomatisch rüberzubringen, er ist sehr reizbar.«
»Ach ja? Mir kam er eher schüchtern vor.«
Ich verzichte auf weitere Erklärungen.
Dann erzählt mir Maxime von dem neuen Film, den er im Kino sehen will und von dem ich weder Titel noch Regisseur noch Hauptdarsteller kenne, ganz zu schweigen von den Nebendarstellern.
Das ist ein Schlag mit der Seniorenkarte.
Ich habe die Wahl: aus Ahnungslosigkeit abschalten – oder mich interessieren. Ich stecke die Demütigung weg und sperre die Ohren weit auf. Der Bursche ist ein echter Filmkenner. Er schwört darauf, Filme im Original zu sehen, und versucht mich mit einem Loblied auf die Untertitel dazu zu bekehren. Ich erkläre ihm, ich hätte ja nichts dagegen, aber meine Augen würden sich standhaft weigern, das
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