Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
warf die Zeitschriften voller Einrichtungsideen für Kinderzimmer weg.
Wir versuchten erst, damit zu leben, und dann, so zu tun, als wenn nichts wäre.
Aber mit Ungesagtem lebt es sich nicht gut. Die nie angeschnittenen Fragen und nie ausgesprochenen Worte liegen über den Boden verstreut wie Glasscherben. Nach ein paar Jahren tut jeder Schritt weh.
Alles erinnert an die Leerstelle: die Kinder der Freunde, das Lachen aus der Schule nebenan; zu wissen, dass man niemals sagen wird: mein Sohn, meine Tochter; seine Frau leiden zu sehen und nichts tun zu können.
Das ganze Leben ist davon verdorben.
Es ist wie eine atomare Verseuchung: Nichts ist zu sehen, aber alles zersetzt sich.
Wir entfernten uns voneinander, langsam, unmerklich. Unsere Matratze verwandelte sich in eine Bodenwelle, jeder grub sich auf seiner Bettseite seine Kuhle.
Annie verwelkte, sie vertrocknete wie ein dürres Blatt. Sie gab auf.
Menschen, die alle Hoffnung verloren haben, gleichen entweihten Stätten, Häusern, in die eingebrochen wurde. Ein Labyrinth von Verwüstungen, von erloschenen Lichtern, von aufgebrochenen Türen. Luftzüge, die nichts aufhalten kann.
Stille und Leere.
Ich war immer mehr unterwegs, bei der Arbeit vergaß ich alles. Meine Tage waren voll, aktiv, sie kamen mir kurz vor wie Schatten um die Mittagszeit.
Und Annie blieb mit ihrer Einsamkeit allein.
Ich glaube, ich habe unbewusst beschlossen, ihre Magerkeit, die überquellenden Aschenbecher, das ungekämmte Haar, die Staubmäuse unter den Möbeln, die Ringe unter ihren Augen nicht zu bemerken.
Schweigen und nichts sehen, feige Bequemlichkeit.
Am Tag, an dem sie starb, war ich für eine Getreideimportfirma in Noworossijsk.
Bis meine Eltern mich erreichen konnten und ich es bis Gelendschick schaffte, um ins nächste Flugzeug zu steigen, war es zu spät, noch viel später als bei dem jungen Maxime und seinem Vater.
Als ich ankam, war da nur noch eine Marmorplatte voll frischer Blumen und Trauerbänder:
Unserer geliebten Tochter – Unserer lieben Schwiegertochter – Meiner zu früh gestorbenen Schwester
.
Die Beerdigung hatte am Tag zuvor stattgefunden. Meine Schwiegereltern hatten sich um alles gekümmert.
Ich hatte sie gebeten, von mir einen einfachen Strauß blaue Disteln mitzubringen, ihre Lieblingsblumen. Und bloß kein Band. Aber sie hatten sich nicht dazu durchringen können. Disteln für eine Bestattung, ohne einen Abschiedsgruß? Was hätten da die Leute gedacht?
Ein Kranz aus roten Rosen hatte mich vertreten, mit einer schwülstigen Floskel darauf:
Meiner vielgeliebten Ehefrau
. Und die gleichen Worte – die ich niemals geschrieben oder ausgesprochen hätte – standen auch in verschnörkelten Lettern auf einer kleinen Marmortafel, neben zwei steifen Tauben, linkisch und lächerlich schnäbelnd.
Man hatte mich mit jener unbezwinglichen, unmöglich zu kritisierenden Macht der wohlmeinenden Leute meines Abschieds von ihr beraubt.
Die zärtlichen Worte, die ich vergessen hatte ihr zu sagen, habe ich dann manchmal ins Leere gemurmelt.
Annie und ich schliefen schon lange nicht mehr miteinander. Aber was bedeutet das schon! Wir bildeten ein seltsames Gespann. Zwei alte Bewohner der gleichen Wohnung, die das Bett teilen und getrennt träumen. Aber auch wenn die Herzen nicht mehr höherschlagen – wenn der andere stirbt, dann geht ein Teil von uns mit ihm. Wer unser Leben geteilt hat, behält ein Stück davon in seiner Tasche. Sein Licht erlischt, und uns fehlt etwas.
M yriam nickt.
»Ich verstehe, dass Sie sich wundern.«
Das sagt sie, während sie sich an mir zu schaffen macht wie eine emsige Biene. Den schmutzigen Verband in den Mülleimer am Wägelchen geworfen, einen eiskalten Schuss Betadine auf Schienbein und Oberschenkel gesprüht, autsch!, mit einer Kompresse die Nähte gesäubert, eine weitere mit einer Pinzette herausgenommen, ohne Zuhilfenahme der Finger entfaltet und auf die Narbe drapiert.
»Sieht jedenfalls schön aus.«
»Wie bitte?«
»Ihre Nähte, da. Schön. Sauber, ordentlich. Keine Rötungen. Alles in bester Ordnung.«
»Aber hatten Sie denn gesehen, dass sie schwanger war?«
»Na ja, sicher. Klar hab ich das gesehen!«
Sie antwortet freundlich, aber sie muss mich für einen alten Trottel halten. Vermutlich hat das ganze Krankenhaus gemerkt, dass die Rotzgöre einen Braten im Ofen hatte.
Ich kann es immer noch nicht fassen: »Aber sie ist
vierzehn
! Wundert Sie das denn nicht?«
»So alt ist meine
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