Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
vollzustopfen, wie ein Nagetier, das Vorräte hortet.
Ich tigere hin und her zwischen Bett und Fenster, Fenster und Tür, Tür und Warteraum, Warteraum und Stationszimmer, wo die Krankenschwestern mich mit ihren Sprüchen empfangen: »Ach, wen haben wir denn da? Gehen wir heute spazieren?«
»Wir machen aber Fortschritte!«
»Seid gegrüßt, ihr weißen Turteltäubchen.«
Myriam amüsiert sich, ihre Kollegin auch.
Ich gehe mit kleinen Schrittchen weiter, ich versuche, den Bauch etwas einzuziehen, den Rücken etwas zu straffen.
Ich plustere mich auf. Ein alter Gockel, der seine Nummer abzieht.
J eden Tag, oder jedenfalls fast, das gleiche Ritual: Ich weigere mich, ihr mein Notebook zu leihen, sie nimmt diese Weigerung mit bemerkenswerter Schicksalsergebenheit hin, dann wartet sie wortlos, bis ich damit fertig bin. Dank ihr verstehe ich endlich, was die Trägheitskraft ist.
»Gibt es niemand anderen, der dir einen Computer leihen könnte?«
»Weiß nicht. Aber es gibt ja Ihren, also kein Problem.«
Auf meiner Stirnglatze muss wohl in Großbuchstaben das Wort »Trottel« stehen.
Wenn ich schließlich nachgebe – und ich gebe jedes Mal nach, es ist ein Albtraum –, nimmt sie ihre Beute an sich und setzt sich damit in aller Ruhe an den kleinen Tisch an der Wand gegenüber von meinem Bett.
Ich habe ihr verboten, das Zimmer zu verlassen. Ich gebe ihr eine halbe Stunde, in der ich vor lauter Angst, dass sie mit dem Computer abhaut, gegen den Schlaf ankämpfe.
Ich versuche ein bisschen zu lesen und ihre Anwesenheit zu ignorieren. Ein Ding der Unmöglichkeit. Sie schmatzt auf ihrem Kaugummi herum, pfeift vor sich hin, und seit ein paar Tagen stößt sie bei jeder Bewegung tiefe Seufzer aus, wie eine eingerostete alte Oma.
Ich habe durchaus daran gedacht, mich etwas umzuhören, Nachforschungen anzustellen, um herauszufinden, wer sie ist und was sie hat, aber ich habe Angst, Schlimmes ans Licht zu befördern, eine schwere Krankheit, irgendeine Schweinerei, die an ihr nagt oder frisst. Auch wenn ich ihr jedes Mal, wenn ich sie sehe, den Tod wünsche, ist das doch nur ein gedachter Tod, eine Phantasie. Ich will sie nicht
wirklich
umbringen. Noch nicht.
Ich möchte sie nur vergessen.
Dafür müsste
sie
aber
mich
vergessen.
Um ihr abgrundtiefes Schweigen nicht ertragen zu müssen, zwinge ich mich ab und zu, Konversation zu machen. Darin habe ich eine gewisse Übung, dank meinem Bruder Hervé, der ein großer Meister im Absondern von Plattitüden und Sendepausen ist.
»Hast du herausgefunden, was du neulich über Vornamen gesucht hast?«
»Ja-aber-nee, weiß nicht genau.«
»Was hast du denn gesucht, deinen Vornamen?«
»Nee, wieso, den kenn ich doch.«
Ich muss gegen meinen Willen lachen.
Sie runzelt die Stirn, denkt nach, berichtigt: »Nein, das hab ich nicht gemeint: Den hab ich schon nachgeschaut, so.«
»Und wie heißt du?«
»Maëva.«
Sie spielt langsam mit ihrem Kaugummi herum, bohrt mit der Zungenspitze ein Loch durch und fügt hinzu: »Das ist Tahitianisch und heißt ›Willkommen‹.«
»Weißt du denn, wo Tahiti ist?«
Sie zuckt mit den Schultern.
»Na ja, nee, weiß nicht genau. Bei Australien, glaub ich. Irgend so was.«
Sie wendet sich der Tastatur zu und tippt langsam mit beiden Zeigefingern etwas, eine widerspenstige Strähne quer über der Wange. Sie schmatzt, schnieft, seufzt.
Das Mädchen ist eine lebende Materialisierung der Arthrose: ein chronischer Schmerz, an den man sich allmählich gewöhnt, der einen aber deswegen noch lange nicht loslässt.
Wenn du etwas wiederbekommen könntest, was du mit zwanzig hattest und mit dem Alter verloren hast, was würdest du dir dann aussuchen?
Ich verstehe nicht einmal deine Frage. Ich habe absolut nichts verloren, ich bin so frisch wie mit achtzehn. Das reinste junge Mädchen.
Stimmt, die Jahre gehen spurlos an dir vorüber, das habe ich sofort gesehen, als wir uns wiedergetroffen haben.
Aber im Ernst?
Im Ernst, ich weiß nicht so recht. Ich denke darüber nach. Und du?
Ich glaube, es ist die Lust, »Sachen zu machen«. Ich habe immer weniger Lust auf irgendetwas. Ich kann mich nicht mehr begeistern, nichts gibt mir mehr einen Kick, alles ödet mich an. Als würde mich nichts mehr wirklich anmachen im Leben, verstehst du?
Keine Ahnung, wovon du redest.
Okay, alles klar. Dir geht es also genauso. Das beruhigt mich.
Sogar Nathalie macht sich Sorgen, früher fand sie mich anstrengend, jetzt findet sie mich trübselig. Ich
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