Das Leben ist ein listiger Kater. Roman
die das Wort auslöste, wenn es durchs Wohnzimmer schallte. Meine Mutter stieß jedes Mal einen Schrei aus und klopfte auf Holz. Meistens erwischte es einen Tisch oder ein Stuhlbein. Mein Vater wurde lila im Gesicht und schnaubte mit erstickter Stimme: »Verdammt, das darf doch nicht wahr sein!«
Es fing immer wegen Nichtigkeiten an, oder jedenfalls wegen Kleinigkeiten.
Vor allem fing es immer mit Uropa Jean an.
Uropa Jean, dessen Leben sich zwischen Fenster und Rundfunkempfänger abspielte, auf einem Ledersessel, der wegen seines Tatterichs nach Bier stank und von wo aus er die Standuhr halb, unsere Straße zu drei Vierteln und meine Eltern ganz sehen konnte, wenn sie am Tisch saßen. Uropa Jean, der andächtig jeden Tag kurz nach 13 Uhr auf dem großen Pathé- 507 -Empfänger seine Lieblings-Satiresendung
Signé Furax
hörte.
Mein Uropa, eine eiserne Faust im Schleifhandschuh.
Ich war mit Abstand sein Lieblingsthema. Er kam gern am späten Nachmittag auf mich zu sprechen. Er räusperte sich, hüstelte etwas, Ähem, ähem! – die Sitzung ist eröffnet –, dann fing er an, vor sich hin zu brummen.
»Was meinst du, Opa?«, fragte mein Vater nach einer Weile, ohne von seinem Kreuzworträtsel aufzublicken.
Uropa Jean holte tief Luft, damit sie bis zum Satzende reichte, und antwortete in abgehackten Fetzen, weil er manchmal mitten im Wort steckenblieb: »Euer Ju-hunge ist ein Lü-hümmel!«
»Aaach, Opa …!«, seufzte mein Vater.
»Mir egal, wenn ihr das nicht hö-hören wollt. Der Kleine ist ein Ta-haugenichts!«
Er fixierte mich mit seinen kleinen, schwarzen Augen, die ständig trieften wie bei einem kranken Hund, und wälzte seine Zunge im Mund herum, um sein Gebiss zurechtzurücken. Ich schnitt ihm schreckliche Grimassen, wobei ich meinen Eltern den Rücken zukehrte, denn für sie war Höflichkeit gegenüber Älteren ein Wert an sich und die Ohrfeige ein Mittel, um sie durchzusetzen.
Uropa Jean drohte mir mit seinem Stock und schloss: »Du wi-hirst noch auf dem Scha-hafott enden!«
Mein Vater warf seine durchgeknetete Serviette auf den Tisch.
Manchmal zerbrach ihm vor Zorn auch der Bleistift mit dem Radiergummistummel zwischen den Fingern.
Meine Mutter schwor, dieses Gerede würde noch Unglück über uns bringen.
Ich verstand schon, dass sie sich Sorgen machte: Die Vorstellung, mich eines Tages eines dieser Schafotte besteigen zu sehen, wo echte Männer wie ich anheuerten, um im Krieg Feinde zu töten, das musste ihr Angst machen. Sie fürchtete um mein Leben.
Normal, für eine Mutter.
Leider lachte mein Vater dann jedes Mal laut auf – was mich sehr kränkte – und meinte: »Mach dir mal keine Sorgen, Schnuckelchen! Dein Sohn kommt nicht aufs Schafott! Ganz sicher nicht! Keine Gefahr!«
Er glaubte nicht an mich.
Und ich kann Ihnen sagen,
das
ist hart für ein Kind.
D er Polizist klopft jedes Mal diskret an meine Tür, auch wenn sie wie fast immer offen steht. Er kommt herein, sagt guten Tag und fragt: »Störe ich auch nicht?«
Wenn ich antworte, dass ich eigentlich gerade gehen wollte, muss er lachen.
Seine Ermittlungen machen keine rechten Fortschritte, glaube ich. Jedenfalls redet er nicht davon.
Er redet vom Wetter, will wissen, was ich gerade lese. Wie ich mit meinen
Memoiren
vorankomme. Es fasziniert ihn, wie ich ständig auf der Tastatur herumhacke.
Aber
warum
er eigentlich kommt, ist mir nicht klar.
Er heißt Maxime. Er hat mir auch seinen Nachnamen gesagt, aber sofort hinzugefügt: »Nennen Sie mich Maxime.«
»Und Sie mich Chateaubriand. Oder Jean-Pierre«, habe ich gesagt.
Er hat gelacht. Er kennt seine Klassiker, Chateaubriands Memoiren, seine
Erinnerungen von jenseits des Grabes
, sind ihm ein Begriff. Aber er nennt mich trotzdem Herr Fabre. Auch gut.
Eine Spur Respekt kann in Beziehungen nichts schaden, seien sie zwischenmenschlicher oder polizeilicher Art.
Ich habe ihn im Verdacht, dass er Mitleid mit mir hat und dem armen Schwerverletzten vom Zimmer 28 einen Barmherzigkeitsbesuch abstattet, wenn er einen freien Moment oder etwas in der Gegend zu erledigen hat.
Oder aber er langweilt sich.
Oder er hat es auf eine der Schwestern abgesehen. Angeblich haben sie unter ihrem weißen Kittel nichts drunter.
Ich habe mir zwar den Hals verrenkt, so weit es ging, konnte bisher aber nichts entdecken, was das Gerücht bestätigen würde.
Aber ich gebe nicht auf.
Ich habe bemerkt, dass die jungen Pflegepraktikantinnen rosige Wangen bekommen, wenn er an
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