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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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wollte grausam sein.
    »Das habe ich.«
    »Du hast ihn nicht geliebt«, sagte er. Das war geraten. Vielleicht hatte sie ihn geliebt. Manchmal hatte er im Laufe der Jahre, in seinen großzügigeren Momenten, gehofft, dass es so war.
    »Nein.«
    »Aber du hast ihn geheiratet.« Es überraschte ihn selbst, dass er es immer wieder betonen musste.
    Ihr Gesicht umwölkte sich, und er bekam schreckliche Angst, dass sie weinen würde. Es wäre ein unerhörtes Erlebnis, eine Frau wie Elisabeta weinen zu sehen – wie ein plötzlicher Meteoritenschauer oder die Entdeckung eines Meereslebewesens, das man schon lange für ausgestorben gehalten hat. So spektakulär es auch gewesen wäre – Alexander wollte es nicht sehen, weil er nicht wollte, dass sie weinte, nie, selbst jetzt nicht, selbst wenn er fand, sie hätte es verdient.
    All das war bedeutungslos, denn sie weinte nicht. Sie hustete. Es war ein hoffnungsloser, jämmerlicher, grauenvoller Husten, und er wünschte sich sofort, sie hätte stattdessen geweint.
    »Ist schon gut«, sagte sie, als sie wieder zu sich kam und sah, wieer sie anstarrte. »Das wäre auch passiert, wenn du nicht von dem armen Mitja angefangen hättest.«
    »Was ist los mit dir?«
    Sie sah ihn vernichtend an. »Generell, meinst du?«
    »Mit deinem Husten.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Zigaretten. Fang gar nicht damit an, Alexander. Es ist eine grässliche Angewohnheit.«
    Er konnte sich nicht erinnern, dass sie in der Kommunalka geraucht hätte, und beschloss zu glauben, dass auch daran der Dinosaurier schuld war.
    »Einen schönen Ausblick hast du hier oben«, sagte sie. Sie wollte von dem Husten ablenken, von den schauderhaften Dingen, die er anzudeuten schien.
    »Das sagen alle.«
    »Und du nicht?«
    »Doch, er ist wirklich nett. Es ist ein bisschen anders, wenn es das Einzige ist, was man hat, aber – doch, der Ausblick ist schön.«
    Sie sah aus dem Fenster, und er wünschte, er könnte nachempfinden, wie der Ausblick auf sie wirkte.
    »Also«, sagte sie, »du vertraust mir nicht, weil ich den armen Mitja geheiratet habe.«
    »So ungefähr.«
    »Was denkst du, warum ich es getan habe?« Sie stand auf und kam näher.
    »Weil es einfach war.« Er stand ebenfalls auf, nur für den Fall, dass es zu einem Handgemenge kommen würde. Er wollte nicht im Sitzen sterben.
    »Unter anderem«, sagte sie.
    »Weil du deinen Beruf satthattest.« Sie war jetzt ziemlich nah, und ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr ins Gesicht zu sehen. Es war schon komisch, dieses Älterwerden. Es äußerte sich als Nachlassen um die Augen herum und als Härte in der Kinnpartie. Aber der jüngere Mensch – der echte – blieb so präsent, so unzweifelhaft lebendig. Es war, als sei der Rest – die Fältchen in denAugenwinkeln, der gespitzte Mund – nur eine schäbige Verkleidung, die niemand ernst nehmen konnte.
    »Teilweise auch deshalb«, sagte sie.
    »Weil du Angst hattest.«
    »Nein«, sagte sie bedächtig. »Nein, das war es nicht.« Sie roch nach Haferbrei und Flieder – und, ja, nach Zigaretten, aber nach den Zigaretten der zwanziger Jahre in Paris, denen von Ingrid Bergmann, nicht nach denen der Seki in den Gulags oder der einfachen Leute überall sonst.
    »Warum sonst?«
    Sie bedachte ihn mit einem Blick, der komplizierter war als ein ganzes Herz, ein ganzes Leben. In dem Blick lag teils Verbitterung und teils Zärtlichkeit und teils unaussprechliche Wut. Dahinter lag vielleicht noch etwas anderes – etwas, von dem er nicht mehr sicher war, ob er es noch erkennen, beurteilen oder glauben konnte.
    »Alexander«, sagte sie. »Bist du je auf die Idee gekommen, dich zu fragen, warum du damals nicht mit deinem Freund zusammen getötet worden bist?«
    Sie bat ihn nicht, bleiben zu dürfen, und er lud sie nicht dazu ein, aber irgendwie war sie eine Woche später immer noch da und machte keine Anstalten zu gehen. Sie unternahmen manchmal gemeinsame Spaziergänge an den Ufern der Newa – Vlad lief sicherheitshalber in gebührendem Abstand hinter ihnen her –, und sie erzählten einander ihr ganzes Leben: was vor der Kommunalka gewesen war und in der Zeit danach und was im Verborgenen geschehen war, als sie zusammen wohnten. Er erzählte, wie er sich nach ihrer ersten Begegnung ins Bett gelegt hatte und von diesem neuen, unwahrscheinlichen, verblüffenden Etwas ganz außer sich gewesen war. Sie erzählte, wie sie nach ihrem Gespräch im Flur den ganzen Nachmittag lang die Verwalterin mit Fragen über ihn gelöchert

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