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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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das vor ihm lag – das lange Leben eines Überlebenden. Es war seine Strafe dafür, recht gehabt zu haben, oder die Belohnung für seine Angst, je nachdem, wie man es betrachtete.
    Dann sahen sie schweigend Kanal eins an und zählten die Lügen, bis die Sonne unterging und das einzige Licht das Leuchten des Fernsehers war.
    Mehrere Tage nach dem Absturz – vielleicht sieben, vielleicht zehn, Alexander würde es nie genau wissen, weil sein Gehirn eine Zeitlang aufhörte, neue Erinnerungen zu formen – klopfte es an der Tür. Obwohl es töricht war, hatte er Vlad bezahlten Urlaub gegeben; er wohnte allein, gab für die wenigen freien Presseorgane Erklärungen ab, wenn sie sich bei ihm meldeten, schrieb Leserbriefe an westliche Zeitungsredaktionen und lernte mit den Geistern der vielen Menschen zu leben, die ihn verlassen hatten. Vlad hatte ihm gesagt, wie unvernünftig es war, und Alexander wusste, wie recht er hatte. Aber er konnte die Vorstellung nicht ertragen, nur mit seinem Leibwächter zusammenzuwohnen – er stellte sich vor, wie Vlad mit seiner Maschinenpistole die Küche bemannte, während er in Pantoffeln Nudeln kochte. Er ertrug es nicht. Nicht jetzt; jetzt ganz besonders nicht.
    Es war Abend, als es klopfte. Alexander hatte die E-Mail-Korrespondenz und die Konferenzschaltungen des Tages hinter sich gebracht und hatte mit seiner neuen abendlichen Routine begonnen, bei einer Viertelflasche Wodka seine Morddrohungen zu lesen und gelegentlich in Online-Schachforen mitzumischen, obwohl es keine Herausforderung und letztlich nicht besonders unterhaltsam war. Bestimmt war es Boris, dachte er, als es noch einmal klopfte – wahrscheinlich hatte er etwas liegenlassen oder brachte Neuigkeiten, die man besser nicht am Telefon besprach. Vielleicht gab es etwas Deprimierendes im Fernsehen, das er nicht allein ansehen wollte. Oder vielleicht war er einfach nur einsam, nur ziellos, nur verloren und war auf seinen Irrwegen durch die Stadt wie von selbst wieder bei Alexander gelandet – denn wo sonst sollte er zu so später Stunde hin? Alexander hatte Mitleid mit Boris, aber er wollte ihn jetzt nicht sehen. Er hatte schon eine nicht unerhebliche Menge Zeit mit seinem Wodka zugebracht und hatte einen Zustand angenehmer Indifferenzerreicht: Ihn beschlich der Verdacht, dass die pulsierenden Lichter Petersburgs vor seinem Fenster das Wichtigste auf der Welt waren und alles andere nur sekundär. Ihm gefiel dieser Verdacht, obwohl er nicht vollständig daran glaubte, und er wollte ihn so lange hegen wie möglich. Als er die Tür öffnete, sah er daher wahrscheinlich verärgert aus, und dieses verärgerte Gesicht war wahrscheinlich das Erste, was Elisabeta sah, als sie zum ersten Mal seit siebenundzwanzig Jahren zu ihm aufblickte.
    Sein Mund füllte sich mit Asche; seine Knochen wurden brüchig, vogelgleich. Einen Moment lang, vielleicht auch länger, fragte er sich, ob er den Verstand verloren hatte – ob Einsamkeit und Trauer und die ständigen Gedanken an eben diesen Augenblick am Ende seinen Draht zur Realität durchgescheuert hatten. Allerdings war es inzwischen lange her, dass er dieses Ereignis herbeiphantasiert hatte. Es war ihm zu viel Trauer dazwischengekommen, und in letzter Zeit war nicht einmal sein Unterbewusstsein nachsichtig genug, sich mit dieser speziellen Wunschvorstellung zu befassen – es gab genug andere, gefährlichere, dringendere.
    »Alexander«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
    Sie klang, als sei gar nichts weiter dabei, ihn das zu fragen, als wären nur ein paar Tage mehr als gewöhnlich vergangen, ohne dass sie sich gesehen hatten, und als sei sie jetzt neugierig darauf, was er in der Zwischenzeit gemacht hatte. Sein Arm schnellte instinktiv Richtung Türrahmen. Es war nicht auszuschließen, dass er Hilfe brauchte, um nicht umzufallen.
    »Was ist mit dem Dinosaurier?«, fragte er. Wäre er nicht ein klein wenig betrunken gewesen, dann hätte er es nicht gefragt, oder zumindest nicht in diesen Worten, oder er hätte es nicht als Allererstes wissen wollen.
    »Dem Dinosaurier?«
    Ein Tsunami ozeanischer Geräusche dröhnte in seinen Ohren, und er musste sie beinahe bitten, lauter zu sprechen. »Dem Funktionär«, sagte er.
    Sie trat einen kleinen Schritt zurück. Sie musste gewusst haben,dass er danach fragen würde, aber vermutlich hatte sie gedacht, er würde sie erst hereinbitten. »Ah. Mitja. Er ist tot.«
    »Sind das nicht alle?«, sagte Alexander. Dann sagte er: »Tut mir leid.«
    »Tut es

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