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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Ratgeberbücher, Büstenhalter. Nichts so Poetisches und Tragisches wie ein winziger Kinderschuh oder ein noch im Schmuckkästchen aufbewahrter Verlobungsring oder ein unveröffentlichter Roman. Die Menschen starben aus einem intakten Leben heraus, mitten in der Bewegung, und waren nicht bereit, auf ein einzelnes Symbol, eine Grabrede reduziert zu werden.
    Und Irina? Betete sie, als sie starb, oder fluchte sie, oder verfluchte sie sich dafür, dass sie betete? Hielt sie die zarte Hand der alten Dame im Nebensitz, streichelte sie einer Gleichaltrigen den Arm? Flirtete sie im freien Fall mit einem schönen Fremden?Weinte sie? Schrie sie? Erfuhr sie endlich, plötzlich, was sie unbedingt hatte wissen wollen?
    Wir wissen es nicht, und Alexander zieht es vor, sich diesen Teil nicht vorzustellen.
    Wir wissen nur, dass ein ozeanisches Licht in Böen anbrandete. Es war reinweiß, als sie auf das Wasser prallten. Letztendlich, stellt er sich gern vor, war es – wie viele traurige Ereignisse, wenn auch nicht alle – in gewisser Hinsicht wunderschön.
    Die Botschaft wurde verständigt. Der amerikanischen Presse gefiel die Geschichte einer jungen Amerikanerin, die für ein Abenteuer und ein Schicksal alles hinter sich gelassen hatte. Viktor wurde in keiner Fernsehsendung erwähnt, weder in Amerika noch anderswo, nur die Nowaja Gaseta widmete ihm einen schönen Nachruf. Alexander weinte, als er ihn las – teils deshalb, weil dieser arme junge Mann gestorben war, und teilweise, weil die Zeitung so viele Dinge über ihn schrieb, nach denen Alexander nie gefragt und von denen er deshalb nichts geahnt hatte.
    Das Interesse an Irina schwoll innerhalb einer Woche an und verebbte wieder. Dann erschien der letzte Harry-Potter-Band, und die Welt wurde von einem universalen Gefühl der Menschenliebe erfasst, wie es sonst nur die Olympiade oder der internationale Terrorismus hervorbringt. Einen Monat nach ihrem Tod war ihr Name ins Vergessen zurückgesunken, und wer sich doch noch an sie erinnerte, konnte sich nur den groben Umriss einer Geschichte ins Gedächtnis rufen – irgendetwas mit einer Amerikanerin, die nach Russland weggelaufen und dort aus Gründen gestorben war, an die man sich nicht erinnern konnte, wenn man sie überhaupt je gekannt hatte.
    Für Alexander hatte das flüchtige posthume Interesse an Irina einige Nachteile. Es warf in gewissen Kreisen gewisse Fragen auf, Zweifel, die nie ganz ausgeräumt wurden. Aber im Großen und Ganzen stiegen seine Aktien nach dem Absturz ein wenig, in der Heimat wie im Ausland. Jeder wusste, wer das eigentliche Ziel desAnschlags gewesen war, und selbst Menschen, die Alexander nicht ausstehen konnten, mussten zugeben, dass er Glück hatte, noch am Leben zu sein. (Mischa, der inzwischen ein gefragter politischer Kommentator war, sagte auf BBC, Alexander habe »fast verdächtig viel Glück«.) Jeder mochte die Vorstellung, dass die Regierung daran gescheitert war, jemanden aus dem Weg zu räumen, und einige betrachteten das ganze Geschehen sogar mit einer Art verblüffter Erheiterung. Später verglich ein alternder Talkmaster auf BBC Alexander einmal mit einem Zeichentrickvogel, der immer wieder einen bösartigen Kojoten überlistet – und Alexander war zum ersten Mal während einer Livesendung vollkommen vor den Kopf gestoßen und wusste nicht mehr, was er sagen sollte.
    Wochenlang dachte Alexander unaufhörlich, ununterbrochen an Irina und Viktor. Ihre Namen dröhnten in seinen Ohren, in seinem Schädel. Sie strömten durch jede Synapse seiner Schaltkreise. Er wurde sie nicht los, egal, was er tat. Und Viktor und Irina waren nicht die Einzigen, denen Alexander seine vorläufig fortgesetzte Existenz verdankte: Sie nahmen ihre Plätze neben Iwan ein, und alle drei sahen ihn unentwegt enttäuscht und tadelnd an. Es war einfach zu viel: Ein ganzer vergrämter Volksstamm nistete in seinem Kopf.
    Gott-weiß-wie-viele Abende brachte er nur damit zu, aus dem Fenster zu starren. Wieder und wieder sah er zu, wie sich ein Vorgebirge der Dunkelheit über die Stadt senkte.
    Fast sofort danach kehrte Boris zu ihm zurück. Eines sonnigen Nachmittags stand er in der Tür und fand Alexander im Schlafanzug vor, wie er kalten Kaffee in die Stapel alter Zeitungen sickern ließ, die überall in der Wohnung herumlagen. Boris musterte ihn von oben bis unten und sagte: »Das sieht alles nicht besonders staatsmännisch aus.« Alexander sah Boris aus rotgeränderten Augen an und stellte sich das lange Leben vor,

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