Das Leben kleben
bisschen Lippenstift auflegen?«
»Nein, nein, danke, Mrs. Shapiro.«
Sie zögerte, musterte mich von oben bis unten. »Na gut. Für heute Abend reicht es. Bitte, kommen Sie.«
Dann folgte ich ihr durch eine Tür in einen langen düsteren Raum, wo ein ovaler Mahagonitisch mit einem weißen Tischtuch für zwei gedeckt war. In der Mitte der Tischdecke lag der große weiße Kater und schlief.
»Raus, Wonder Boy! Raus!« (Es klang wie Wunder Boy.) Sie klatschte in die Hände.
Der Kater streckte ein muskulöses schwarzbesocktes Bein hinter dem Ohr aus und begann sich das Geschlecht zu lecken. Dann kratzte er sich, und eine Wolke von Flusen stieg auf. Schließlich stand er auf, streckte sich ein paarmal, sprang vom Tisch und schlenderte durchs Esszimmer.
»Das ist Wonder Boy. Sieht aus, als hat er sich in der Ecke was gewünscht.« An der Wand bei der Tür, etwa in der Höhe von Wonder Boys Schwanz, war ein nasser Fleck, der mich an unsere erste Begegnung erinnerte. Als sie sich bückte und ihn hinter den Ohren kraulte, schnurrte er wie ein startendes Motorrad. »Er ist mein Liebling. Bald lernen Sie auch Violetta und Stinkerle kennen. Die Kleinen aus dem Kinderwagen kennen Sie ja schon. Mussorgski versteckt sich irgendwo. Er ist ein bisschen eifersüchtig auf Wonder Boy. Borodin lässt sich sowieso nie blicken. Er kommt nur zu den Mahlzeiten. Insgesamt sind es sieben. Meine kleine Familie, nich wahr.«
Ich reichte ihr die Flasche Wein, die ich mitgebracht hatte. Ein weißer Rioja. Passte gut zu Fisch. Wir mühten uns beide mit dem Korkenzieher ab; sie schaffte es schließlich, die Flasche zu öffnen, und schenkte jeder von uns ein Glas ein.
»Auf die Schnäppchen!«, sagte sie. Wir stießen an.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Ich fürchtete mich ein bisschen vor dem, was in der Küche im Gange war, doch sie bedeutete mir mit einer strengen Handbewegung, mich zu setzen.
»Sie sind mein Gast. Bitte, Georgine, setzen Sie sich.«
Aus der Nähe sah ich, dass die Tischdecke nicht weiß war, sondern gräulich gelb,
mit einer dicken Schicht Katzenhaare in den verschiedensten Farben. Auch die Servietten waren nicht weiß, sondern hatten rosa und rote Flecken, die Wein, Rote Bete oder Tomatensuppe sein konnten. Während Mrs. Shapiro in der Küche werkelte, versuchte ich diskret die Schmutzkruste zwischen den Zinken meiner Gabel zu entfernen und sah mich im Zimmer um. Das einzige Licht kam von einer Energiesparlampe in einem Messingkronleuchter, dessen andere fünf Glühbirnen durchgebrannt waren. An einer Wand war ein marmorner Kamin, und darüber hing ein großer goldgerahmter Spiegel, der so fleckig und trüb war, dass ich, als ich aufstand, um mich in dem grünen Kleid zu bewundern, welk und grau wirkte, trauriger und älter als das Bild, das ich von mir hatte - die Augen hohl und zu dunkel, das Haar vom Wind zerzaust und zu kringelig und das Kleid so anders als alles, was ich in den letzten Jahren getragen hatte, dass ich mich kaum wiedererkannte. Ich drehte mich schnell weg, als hätte ich einen Geist gesehen. An der gegenüberliegenden Wand waren hinter langen Vorhängen zwei hohe Fenster, die anscheinend mit Brettern vernagelt waren, und dazwischen hing ein Schwarzweißfoto, die altmodische Studioaufnahme eines jungen Mannes im Smoking mit markanten klaren Zügen und hellem lockigem Haar über einer hohen Stirn. In der linken Hand hielt er den Hals einer Violine. Er hatte irritierend helle Augen, die mich aus dem Foto anblickten, fast als wäre er hier, in diesem Zimmer. Seltsamerweise wirkte das Foto, obwohl es schwarzweiß war, leuchtender und lebendiger als mein eigenes Spiegelbild.
Als ich das Foto betrachtete, kam ein leicht fischiger Geruch ins Zimmer gezogen. Ich drehte mich um und sah Mrs. Shapiro mit einem großen Silbertablett in der Tür, auf dem zwei dampfende Suppenteller standen.
»Soupe de poisson. Cuisine francaise«,
verkündete sie strahlend, dann stellte sie einen Teller vor mich und setzte sich mit dem anderen mir gegenüber. Ich sah in den Teller. In einer schmutzigbraunen dünnen Flüssigkeit schwammen ein paar graue Flocken herum.
»Bitte fangen Sie an. Warten Sie nicht.«
Ich tauchte den Löffel ein. Wahrscheinlich bringt es mich nicht um, sagte ich mir.
In Kippax habe ich Schlimmeres gegessen. Auf der anderen Seite des Tischs schlürfte Mrs. Shapiro ihre Suppe mit gesegnetem Appetit und hielt nur inne, um sich mit der Serviette die Lippen abzutupfen. Aha - daher die roten
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