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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Eltern bezahlten ihm Unterricht bei einem Geigenlehrer, und der Lehrer riet, dass der junge Mann nach St. Petersburg gehen solle, oder Leningrad, wie es inzwischen hieß, mehrere hundert Kilometer weiter östlich, um am Konservatorium zu studieren.
    »Und dort fühlte er sich wie ein Fisch im Wasser!«, sagte sie, während sie den scheußlichen braungelben Fisch mit offensichtlichem Vergnügen verspeiste.
    Nach der Revolution war Leningrad der Mittelpunkt des politischen und kulturellen Lebens; Musiker, Schriftsteller, Künstler, Filmemacher, Philosophen wurden von dem Strudel politischer Ideen mitgerissen. Viele sympathisierten mit der Revolution und wollten ihre Kunst in den Dienst des Volkes stellen. Einer davon war Sergej Prokofjew, der den talentierten jungen Geigenspieler aus Orscha kennenlernte, als er das Orchester dirigierte, in dem Artem spielte.
    »Auch Arti wollte die große Musik zu den Massen bringen.«
    Er hatte die sozialistischen Ideen von seinem Vater, der ein jüdischer Bundist war, erklärte sie. Bevor ich nachfragen konnte, was ein Bundist war, redete sie weiter: »Solange man nichts Schlechtes über die Bolschewiken sagte, konnte man damals spielen, was man wollte.«
    Ende der dreißiger Jahre spielte Artem die Erste Geige im Volksorchester und hatte gerade mit einer Solistenkarriere begonnen. Doch dann, als Stalins Griff fester wurde, wurden auch die Musiker auf Linie gebracht. Mrs. Shapiro runzelte die Stirn und schlang ihren Fisch herunter.
    »Wie der arme Prokofjew. Er musste öffentlich bereuen, nich wahr? Wenn ich die Siebte Symphonie höre, muss ich immer daran denken, wie sie ihn gezwungen haben, den Schluss zu ändern.«
    Wegen der falschen Sicherheit, die der Hitler-Stalin-Pakt versprach, rechnete in Russland niemand mit dem Überfall der Deutschen im Sommer 1941. Und so hielt es Arti, als er hörte, dass sein Vater krank war, für ungefährlich, im Juni nach Minsk zu fahren, um seine Familie zu besuchen. Weißrussland lag damals im östlichen Teil des ehemaligen polnischen Staatsgebiets, der kürzlich von Russland annektiert worden war, und es kursierten Gerüchte, was mit den Juden im von Deutschland besetzten westlichen Teil passierte. Zur gleichen Zeit, als jeder Jude, der konnte, nach Osten floh, reiste Artem als blinder Passagier auf einem Güterzug nach Westen, just als der Pakt zerbrach und die deutschen Truppen nach Osten durch Polen in die Sowjetunion marschierten.
    »Fand er seine Familie wieder?«
    »Ja. Seine Eltern und zwei seiner Schwestern waren noch da. Aber die Nazis errichteten in Minsk einen Stacheldrahtzaun um die Straßen, in denen die Juden lebten, damit keiner weglaufen konnte.«
    »Ein Ghetto?«
    »Ghetto. Gefängnis. Alles dasselbe. Aber Ghetto ist schlimmer. Zu viele Menschen auf einem Haufen. Keine Lebensmittel. Kartoffelschalen und Ratten aß man. Und jeden Tag wurden auf der Straße Menschen von Soldaten erschossen. Andere starben an Krankheiten. Manche waren so verzweifelt, dass sie Suizid machten.«
    Mrs. Shapiros Stimme war so leise geworden, dass ich den Wasserhahn in der Küche tropfen hörte und eine Katze, die sich unter dem Tisch kratzte. »Und was wurde aus Artems Familie?«
    Als Artem in Minsk ankam, war die Bevölkerung bereits um Tausende von Juden angewachsen, die aus dem Westen geflohen waren, sowie um die deutschen Juden, für die in den deutschen und polnischen Ghettos oder Konzentrationslagern kein Platz mehr war. Trotz des Hungers und der Typhus- und Choleraepidemien, die im Ghetto wüteten, und täglichen Massenerschießungen - manchmal Hunderte Menschen auf einmal -, starben die Leute einfach nicht schnell genug weg. Sie alle zu erschießen hätte zu viel Munition gekostet. Dann kam einem örtlichen Nazikommandanten eine clevere Idee, wie man Juden effektiv töten konnte, ohne kostbare Kugeln zu verschwenden.
    Eines Morgens wurden etwa vierzig Juden willkürlich von den Straßen geholt, in ein Waldstück am Ortsrand gebracht und gezwungen, eine Grube auszuheben. Dann wurden sie mit Stricken zusammengebunden und in die Grube, die sie selbst ausgehoben hatten, gestoßen. Russische Kriegsgefangene erhielten den Befehl, sie lebendig zu begraben.
    »Aber die sturen Bolschewiken weigerten sich, und schließlich mussten sie die Juden doch erschießen, und die Russen dazu. Am Ende haben sie also noch viel mehr Kugeln verbraucht, nich wahr?«
    Artems Vater hatte zu den vierzig gehört.
    Um Kugeln und Zeit zu sparen, wurden mobile Vergasungswagen

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