Das Leben kleben
Flecken. Ich stellte fest, dass ich, wenn ich die Luft anhielt, die Flüssigkeit schlucken konnte. Die grauen Flocken versuchte ich am Boden meines Tellers zu zerdrücken, damit sie nicht sah, wie viele ich übrig ließ.
»Köstlich«, sagte ich und versuchte eine saubere Ecke an der Serviette zu finden, um mir den Mund abzutupfen.
Der zweite Gang war zum Teil besser, zum Teil schlimmer als der erste. Besser, weil es gekochte Kartoffeln und Lauch mit heller Soße gab, die, auch wenn sie Klümpchen hatte, einigermaßen essbar aussah; schlimmer, weil der Fisch, ein ganzes, an den Rändern verfärbtes Filet von etwas Hartem, Braunem und Gelbem, so ekelerregend roch, dass ich wusste, ich würde es nicht runterbekommen. Selbst meine Mutter hatte nie so schlecht gekocht.
Als ich mit den Kartoffeln und dem Lauch begann, spürte ich plötzlich einen warmen Druck in der Leistengegend. Ich sah Mrs. Shapiro an. Sie lächelte. Aus dem Druck wurde ein Pochen, rhythmisch und fordernd. Was zum Teufel ging hier vor?
»Mrs. Shapiro ...«
Sie lächelte wieder. Ich spürte ein Beben, das von einem seltsam schnarrenden Geräusch begleitet wurde, wie ein Motor, der an einem kalten Tag schlecht anspringt. Dann spürte ich durch den seidigen Stoff des Kleids das Pieksen scharfer Krallen in meinem Schenkel. Ich schob die Hand unter den Tisch und berührte warmes Fell. Endlich kam mir eine Idee.
»Mrs. Shapiro, das Foto«, ich zeigte auf die Wand hinter ihr, »wer ist das?«
In dem Moment, als sie mir den Rücken zuwandte, schob ich das Fischfilet von meinem Teller auf den Boden und gab der Katze einen Schubs.
»Das ist mein Mann«, sie drehte sich wieder zu mir um und faltete die Hände. »Artem Shapiro. Mein geliebter Arti.«
Unter dem Tisch wurde das Schnurren lauter, dann verwandelte es sich in ein zufriedenes Schmatzen. »War er Musiker?«
»Einer der größten, Darlink. Vor dem Krieg. Bevor ihn die Nazis ins Lager gesteckt haben.« »Er war im Konzentrationslager?«
»An der Ostsee. Viele Juden aus ganz Europa sind dort geendet. Sogar ein paar, die wir noch aus Hamburg kannten.« »Ihre Familie kam aus Hamburg?« »Wir sind 1938 geflohen.« »Und Artem - hat er auch überlebt?«
»Das ist eine lange Geschichte, Georgine. Zu lang, und zu lange her.«
Der junge Mann auf dem Foto starrte mich mit seinen blassen, intensiven Augen an. Ich sah, wie elegant seine Finger den Hals der Violine hielten. Im
Verspritzten Herz
würde der Geliebte der Heldin auch solche Hände haben, dachte ich. Ms. Firestorm spitzte die Ohren; sie witterte eine große Liebesgeschichte vor dem stürmischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs.
»Bitte erzählen Sie sie mir, Mrs. Shapiro. Ich liebe Geschichten.«
»Ja, es ist eine Liebesgeschichte«, seufzte sie. »Aber ich weiß nicht, ob sie ein Heppy End hat.«
Die Geschichte, die sie mir in dieser Nacht zu erzählen begann, war wirklich eine Art Liebesgeschichte, und obwohl sie sie mir in ihrem merkwürdigen körnigen Englisch erzählte, füllte meine Fantasie die Lücken zwischen den Worten so lebhaft aus, dass ich später nicht mehr wusste, was sie erzählt und was ich dazugedichtet hatte.
Artem Shapiro, ihr Mann, erzählte sie, wurde 1904 in der kleinen Stadt Orscha geboren, in einem Land, das mal zu Polen, mal zu Russland, mal zu Litauen gehörte, die meiste Zeit aber einfach ein Ort war, wo die Leute - die Juden zumindest - still und leise ihren Geschäften nachgingen und während der Kriege, der Pogrome und dem politischen Tauziehen der Großmächte den Kopf einzogen.
»So sind wir. Wir glaubten, wenn wir stillhalten, würden wir alles überleben.«
Artems Vater war Geigenbauer, und recht erfolgreich, und er dachte, dass auch der Sohn dieses Handwerk erlernen würde, doch eines Tages griff Artem nach der Geige und begann zu spielen, und so fing alles an. Jeden Tag nach der Arbeit in der Werkstatt seines Vaters setzte er sich ein, zwei Stunden in den Hof und spielte die populären Melodien, die er auf der Straße hörte. Dann versuchte er eigene Melodien zu improvisieren. Die Nachbarn ließen alles fallen, womit sie gerade beschäftigt waren, und stellten sich an den Zaun, um ihm zuzuhören. Schon bald zeigte sich, dass er ein wahrhaft begnadeter Geigenspieler war.
»Darlink, jeder, der ihm zuhörte, war tiefbewegt. Die Leute konnten nicht glauben, dass ein kleiner Junge so schön spielen konnte.«
Als Artem heranwuchs, zog seine Familie nach Minsk, der Hauptstadt von Weißrussland. Seine
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