Das Leben kleben
ausgerüstet, die von Ort zu Ort fuhren. Doch warum all die Arbeitskräfte verschwenden, wenn es in den Munitionsfabriken an Arbeitern fehlte? Es wurde beschlossen, dass arbeitstaugliche Juden wie Artem einen Beitrag zur Rüstung leisten sollten.
»Also haben sie ihn ins Lager geschickt.«
Der Ort, an den sie Artem schickten, war ein Arbeitslager, kein Vernichtungslager, doch ein Ferienlager war es auch nicht, von kalten Ostseewinden gepeitscht, hinter Stacheldrahtzäunen unter einem ewig bleiernen Himmel. An diesem elenden Flecken beutete eine Anzahl deutscher Firmen, darunter auch solche, die noch heute jeder kennt, die billigen Arbeitskräfte aus. Wer arbeitete, durfte essen, die anderen starben.
Doch die litauischen Wachen waren lasch und faul und setzten die Sicherheitsverordnungen ihrer neuen Herren nicht immer durch. Eines frühen Morgens kam Artem auf dem Weg zur Arbeit an einem Wachmann vorbei, der, immer noch blau vom Vorabend, an eine Mauer pinkelte - er hatte sich dafür ein stilles Plätzchen hinter einer Ecke gesucht. Artem erkannte seine Chance; es ging um Leben oder Tod, er musste sie nutzen. Obwohl er geschwächt von den Monaten des Hungerns war, hatte er die Überraschung auf seiner Seite. Er nahm einen Stein und schlug ihn dem Litauer über den Schädel; dann stahl er seine Uniform und seine Papiere.
»Und er rannte, so schnell er konnte, in den Wald davon, um sich den Partisanen anzuschließen.«
Sie hielt inne und griff nach einer Zigarette. Unter dem Tisch war ein Streit um die Reste meines Fischs ausgebrochen. Man hörte Fauchen und das Klopfen von Katzenschwänzen.
»Raus, Wonder Boy! Raus, Stinkerle! Raus, Violetta!« Sie versuchte unter dem Tisch nach ihnen zu treten, doch ihr Fuß verhedderte sich in der Tischdecke und sie lehnte sich mit einem resignierten Seufzer zurück.
»Was ist dann passiert?«, fragte ich.
Sie richtete sich auf und zündete sich die Zigarette an.
»Ach, Georgine, ich kann diese Geschichte nicht erzählen, während wir hier gutes Essen verzehren, an die armen hungrigen Leute denken. Ich erzähle ein andermal weiter. Jetzt will ich lieber Musik hören. Die großen russischen Komponisten. Möchten Sie das?«
Ich nickte. Die Streitigkeiten unter dem Tisch hatten sich gelegt, die Katzen warteten auf den nächsten Gang. Wonder Boy leckte sich wieder das Hinterteil. Violetta schmiegte sich an meine Beine. Mrs. Shapiro sammelte die Teller ein und stöckelte in die Küche, die Zigarette ließ sie in einer Untertasse brennen. Mir war ein bisschen blümerant. Zu zweit hatten wir beinahe die ganze Flasche Wein getrunken. Das schwache Lampenlicht warf verschwommene Schatten auf den Tisch und die Wände, so dass alles irgendwie vergilbt und unwirklich aussah -oder vielleicht waren es die Bilder der schrecklichen Geschichte, die in meinem Kopf arbeiteten.
Nach einer Weile bemerkte ich ein Geräusch aus dem Nebenzimmer, es war ein tiefer klagender Laut, wie eine Stimme, die aus der Unterwelt rief. Erst dachte ich an die Katzen, doch dann begriff ich, dass es Musik war - leise, traurige Musik, die sich verstohlen zur offenen Tür hereingeschlichen hatte. Am Anfang war es eine einzelne Geige, dann stimmten weitere mit ein, und eine Melodie wurde erkennbar, eine zutiefst melancholische Melodie, die sich ein ums andere Mal wiederholte und dabei immer lauter und höher wurde. Aus irgendeinem Grund dachte ich plötzlich an Rip - an Rip und mich zusammen, an Rip und mich, wie wir uns liebten, unsere Hände und Körper, die im Dunkeln nacheinander suchten, wie wir uns immer fanden, immer zusammenkamen, immer gleich und doch immer anders, in ewigen Wiederholungen und Variationen.
Jetzt änderte sich das Tempo der Musik; sie wurde lauter, heftiger, mit Beckenschlägen und Pauken, die wie Kopfweh pochten, und die Violinen tanzten die Tonleiter hinauf und hinunter, immer schneller, im Wettstreit miteinander, im Widerspruch zueinander, ein Aufruhr des Klangs. Wieder dachte ich an Rip, und ich erinnerte mich an den schrecklichen Zorn und Aufruhr unseres letzten Streits. Nein, wurde mir klar, es war nicht nur die Musik. In meinem Magen rumorte und tobte es. Dann stand Mrs. Shapiro mit einem weiteren Tablett in der Tür.
»Jetzt kommt das Dessert.«
»Ich ...«
Sie stellte das Tablett auf den Tisch. Es sah aus wie ein Fertigkuchen aus dem Supermarkt, immer noch in der Aluschale. Das konnte ich verkraften - mit solchen Dingen war ich aufgewachsen. Ein Becher SONDERPREIS-Sahne
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