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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Chaim Shapiro und Mustafa Ali - und doch war es dieselbe Welt. Wir alle mussten lernen, irgendwie in ihr zu leben.
    Als Mr. Ali mir seine Geschichte erzählte, war ich so voller Mitleid gewesen, dass ich am liebsten gleich selbst losgezogen wäre, um Rache für seine verlorene Heimat und seine ermordete Familie zu nehmen. Doch jetzt bekam ich auch Mitleid mit diesem traurigen, zerknitterten Mann, diesem einäugigen Kind der zerbrochenen Träume seiner Mutter. Meine Eltern hatten mich gelehrt, immer zu den Schwächeren zu halten, doch auch die Schwächeren konnten Täter sein. Wie sollte ich wissen, wer angefangen hatte? Wessen Schuld es war? Vielleicht war das von vornherein die falsche Frage. Und wenn man nur die menschlichen Bindungen richtig hinbekam, vielleicht ergaben sich dann die Details - Gesetze, Grenzen, Verfassung - von ganz allein. Vielleicht ging es einfach darum, den richtigen Klebstoff für diese speziellen Fügeteile zu finden. Erbarmen. Vergebung. Wenn es sie doch aus der Tube gäbe.
     
    Erst als ich zu Hause war, fiel mir ein, dass ich Chaim gar nicht gefragt hatte, wie er sein Auge verloren hatte. War er in das Massaker am Flughafen Lod geraten? Ich dachte an das Gespräch mit Ben vor ein paar Tagen - die alte Prophezeiung des Kampfs zwischen Jesus und dem Antichrist vor den Toren von Lydda, der dem Ende der Welt vorausgehen sollte. Ein Flughafen war eine Art Tor zu einer Stadt, oder? Aber die Terroristen hatten die Worte der Propheten doch sicherlich nicht gekannt. Plötzlich durchfuhr mich die Angst wie ein Stich. Konnte die Gegenwart so mit der Vergangenheit verknüpft sein? Welche geheimnisvollen Kausalitäten hätten diese Verbindung heraufbeschwören können? Kein Wunder, dass Ben so verstört war. Und Daddschal, der Teufel mit dem einen Auge? Doch Chaim Shapiro war kein Teufel; auch er war ein Opfer - eine verirrte Seele, die zu früh die Mutter verloren hatte. Ohne seine Schulterpolster war er nicht mehr als ein verschwitzter Mann mittleren Alters in einem Polyesterhemd. Trotzdem schauderte ich, als hätte eine uralte Hand mir auf die Schulter getippt und eine Stimme aus einer anderen Welt geflüstert:
»Armageddon.«
     

42 - Ungünstige Fügeteile
    Als ich bei unserem Haus ankam, schwand das Tageslicht bereits, und durch Bens Fenster sah ich, dass sein Computer an war und der Bildschirmschoner weiß, rot und schwarz flackerte. Seltsam. Ben sollte eigentlich bei Rip sein. Vielleicht hatte er vergessen, den Computer auszuschalten, als er ging. Oder er war früher zurückgekommen.
    »Hallo, Ben!«, rief ich die Treppe hinauf, als ich zur Tür hereinkam. Ich bekam keine Antwort. Ich setzte Tee auf, dann ging ich nach oben und klopfte an seine Tür. Keine Antwort. Ich schob die Tür auf.
    Es roch muffig nach Socken und Turnschuhen, und der Bildschirmschoner tanzte im Halbdunkel und warf schwindelerregende Muster an die Wand. Weiß! Rot! Schwarz! Weiß! Rot! Schwarz! Wusch! Wusch! Wusch! Die Wände strahlten grell auf, loderten und wurden wieder kohlrabenschwarz. Ich hatte ein grauenhaftes Rauschen in den Ohren, das ich erst dem Computer zuschrieb, bis ich begriff, dass es das Blut war, das in meinem Kopf pulsierte. An der gegenüberliegenden Wand wollte sich ein schwerfälliges Monster mit schrecklichen Zähnen auf mich werfen - Bens Ork-Poster, das im Schein des Bildschirms flimmerte. Dann sah ich Ben. Er lag zwischen dem Bett und dem Schreibtisch auf dem Boden, zusammengerollt wie ein Bündel Lumpen zwischen den herumliegenden Kleidern.
    »Ben!«, schrie ich. Doch wie in einem Alptraum brachte ich bis auf ein stimmloses Krächzen keinen Ton heraus.
    Dann sah ich, dass es nicht nur das zuckende Licht war; Ben bewegte sich,
er
zuckte. Sein Kopf war zurückgeworfen, seine Augen standen offen und waren verdreht wie Chaim Shapiros Glasauge, Schaum und Erbrochenes tropfte ihm aus den Mundwinkeln. Ich stolperte auf ihn zu, dabei warf ich den Stuhl um, über dessen Armlehne das Kabel der Maus hing, und die Seite, die er sich angesehen hatte, tauchte auf dem Bildschirm auf - dasselbe glühende Rot auf schwarzem Hintergrund mit tanzenden Flammen und einem flackernden Wort:
Armageddon.
    Ich kniff die Augen zusammen, griff nach dem Stromkabel und riss den Stecker heraus. Es wurde dunkel. Ich knipste das Licht an. Ben stöhnte und zuckte mit Armen und Beinen. Ein säuerlicher Geruch stieg von ihm auf. Seine Hose war nass, und unter ihm hatte sich eine Pfütze gebildet. Ich legte mich neben ihn, nahm

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