Das Leben kleben
»Du bist der Sohn von meinem Arti, Chaim. Hier hast du immer ein Zuhause, wenn du willst. Aber meine Betreuer müssen auch hier bei mir wohnen.«
Ihre Stimme war so verführerisch, dass ich mich beinahe selbst um ein Zimmer beworben hätte, obwohl ich, im Gegensatz zu Chaim, von dem Phantomscheißer wusste. Chaim, ich sah es ihm an, war bereits verführt.
»Ella, ich sehe, dass du eine wahre kleine Haustaube bist, und ich nehme deine Einladung, bei dir zu wohnen, dankbar an. Und wenn die Araber bleiben müssen, können wir vielleicht das Haus aufteilen. Sie nehmen den oberen Teil des Hauses,
und wir bleiben bei uns unten.« Er strahlte großzügig in die Runde.
»Hm! Als Nächstes bauen Sie eine Mauer«, sagte Mr. Ali trocken. »Kontrollpunkte auf der Treppe. Und dann stehlen Sie paar mehr Zimmer dazu und setzen Siedler rein.«
Ismael und Nabil lächelten verwirrt.
»Haben Sie ein Pflaster, Mrs. Shapiro?«, fragte ich, um die Spannung zu lösen.
Chaims Wange blutete ziemlich stark - Wonder Boy hatte kräftig zugeschlagen. Mrs. Shapiro schlurfte los und machte sich auf die Suche. Mr. Ali und die Betreuer versammelten sich zu einem gesonderten Treffen in der Küche. Ich hörte, wie sie mit der Kaffeekanne hantierten, und kurz darauf zog der Duft von frischem Kaffee ins Esszimmer. Chaim Shapiro und ich waren ein paar Minuten allein. Er zog die Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne und öffnete den obersten Knopf seines weißen Hemdes. Er schwitzte stark unter den Armen. Ohne Jacke wirkte er viel kleiner. Für seinen massigen Eindruck waren hauptsächlich die Schulterpolster verantwortlich, stellte ich fest.
Das Auge, das mich ansah - das gute Auge -, war dunkel und traurig, aber es erinnerte mich an die strahlenden braunen Augen der jungen Frau auf den Fotos, und sein rundes fleischiges Gesicht lief zu einem kleinen spitzen Kinn zusammen, das wie eine unbeholfene Kopie von ihrem wirkte. Wieder dachte ich, es würde ihm guttun, wenn ihn jemand hinter den Ohren kraulte. Stattdessen beugte ich mich vor und sagte: »Sie sehen Ihrer Mutter ähnlich.«
Er sah mich an, und plötzlich sah er völlig anders aus, mit einem Lächeln, so lieb und kindlich, als hätte es sich im Gesicht geirrt.
»Sie kannten meine Mutter?«
»Ich kannte sie nicht«, sagte ich. »Aber ich habe Fotos von ihr gesehen. Sie erinnern mich an sie.«
»Ich wünschte, Sie hätten sie gekannt. Alle, die sie kannten, haben sie vergöttert.« Er lächelte genau wie das Baby auf dem Foto, und in den fleischigen Wangen bildeten sich frohe Grübchen bei der Erinnerung.
»Und Ihr Vater ...«
»Ja, Artem Shapiro. Der Musiker. Sie hat immer von ihm gesprochen, mir immer die Ohren abgekaut.«
»Warum kam er nicht mit nach Israel?« Unwillkürlich hielt ich die Luft an.
»Er war zu krank. Kaputte Lungen. Ella hat sich um ihn gekümmert. Hier, in diesem Haus.«
Auf dem Totenschein stand Lungenkrebs.
»Und Ihre Mutter kam nie zurück?«
»Sie wollte einen Garten in der Wüste schaffen. Können Sie sich das vorstellen -mit nackten Händen? Sie wollte nicht fort, bis er fertig war.« Ein Schatten zog über sein Gesicht, und er schien in seinem weißen Polyesterhemd noch kleiner zu werden. »Dann wurde sie krank. Blutkrank. Sie starb, als ich zehn Jahre alt war. Ein paar Monate nach meinem Vater.« Ich erinnerte mich an das Datum des Briefs aus Lydda. Chaim war 1950 geboren, also musste sie 1960 gestorben sein.
»Das tut mir sehr leid. Die ganze Familie zu verlieren ... Und dann Ihre Verletzung ...«
Ich wollte fragen, wie es passiert war. Wahrscheinlich merkte er ohne einen Blick in den Spiegel nicht einmal, dass sein Glasauge falsch herum in der Höhle saß.
»Meine Familie war der Moschaw - Vater, Mutter, Schwester, Bruder. Als sie starb, blieb ich dort. In unserem neuen Staat waren alle eine große Familie.«
Es musste derselbe Moschaw gewesen sein, von dem sie in dem Brief schrieb, der steinige Hang, wo sie ihr Neugeborenes in den Armen gewiegt, nach Westen gesehen und auf ihren Mann gewartet hatte. Ihr Foto war immer noch bei mir zu Hause im Schlafzimmer. Das nächste Mal musste ich es ihm mitbringen.
»War sie auch Weißrussin?«
»Nein, sie kam aus Dänemark. Sie hatten sich in Schweden kennengelernt. In London geheiratet. Und ich wurde in Israel geboren.« Er lächelte wieder das Baby-Grübchenlächeln. »Naomi Shapiro. Sie war eine Frau mit großen Träumen.«
»Sie träumte vom Gelobten Land?«
»Von unserem Heimatland. Zion.«
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