Das Leben kleben
ihn in die Arme, streichelte seine Wangen und seine Stirn, flüsterte seinen Namen. Ich wusste nicht, ob es das Richtige war, doch ich hielt ihn fest, bis er ruhig dalag und sein Atem langsamer wurde. Dann rief ich den Notarzt.
Dann ging alles ganz schnell, in einem Wirbel von Panik und energischen Sanitätern und flackerndem Blaulicht. Ich versuchte Rip aus dem Krankenwagen anzurufen, doch er ging nicht ans Telefon, also schickte ich ihm eine SMS. Nach ein paar Minuten kam Ben wieder zu Bewusstsein. Er hob den Kopf von der Trage und sah sich wie betäubt um.
»Wo bin ich?«
»Du bist auf dem Weg ins Krankenhaus.« »Oh.« Er wirkte enttäuscht.
»Ich bin deine Mutter.« »Das weiß ich.«
Ich hielt seine Hand und flüsterte leise Mutterworte, während wir mit heulender Sirene durch die abendlichen Straßen jagten.
Die Station, in die er eingewiesen wurde, war dieselbe, auf der Mrs. Shapiro zuerst gelegen hatte. Eine Schwester, die ich nicht kannte, kam und zog die Vorhänge um das Bett zu. Es war unheimlich im Innern der zugezogenen Vorhänge. Ich erinnerte mich an das Gurgeln aus dem Nachbarbett, als die Dame mit dem rosa Morgenmantel gestorben war. Der Arzt, der nach uns sah, wirkte kaum älter als Ben, und er hatte die gleiche gegelte Stoppelfrisur wie Damian. »Sieht aus, als hätte er einen Anfall gehabt«, sagte er. Er redete mit einem nasalen Liverpooler Tonfall. »Was - Epilepsie?«
»Könnte sein. Könnte aber auch eine einmalige Sache gewesen sein.« »Aber warum?«
»Das können wir noch nicht sagen. Wenn wir die Kernspintomographie gemacht haben, wissen wir mehr.« »Und wann ist das?«
»Morgen sieht ihn sich der Neurologe an. Lassen Sie ihn heute Nacht ausschlafen. Keine Sorge, wir haben ihn im Auge. So was kommt gar nicht so selten vor, wissen Sie, bei jungen Leuten in seinem Alter.«
Er lächelte unbeholfen und fingerte an dem Stethoskop herum, das um seinen Hals hing. Er versuchte nett zu sein, aber er war zu jung, um mich zu überzeugen.
Dann ging der Vorhang auf und Rip und Stella kamen herein. Rip ignorierte mich, und ich glaube, ich wäre weggelaufen, wäre Stella nicht zu mir gekommen und hätte mich umarmt.
»Was ist mit Ben los, Mum?«
Wie hübsch sie war, aber so dünn - zu dünn. Sie roch nach Apfelshampoo und Neroli. Ich hielt sie fest und strich ihr übers Haar, das ihr über den Rücken fiel wie dunkle Seide. Ich wollte in Tränen ausbrechen, doch ich zwang mich zu einem optimistischen Lächeln.
»Irgendwas ist passiert - er hatte einen Krampfanfall oder so was. Ich glaube, er wird wieder.«
Stella drückte ihrem Bruder die Hand. »Du dummer kleiner Bengel.« Sie sagte es mit dem breiten Dialekt aus Leeds, der Sprache ihrer Kindheit. Er öffnete die Augen und sah sich mit einem seligen Lächeln um. »Hallo, alle!« Dann schlief er wieder ein.
Rip stand im Vorhang und versuchte den Arzt in ein Gespräch zu verwickeln, verlangte Details und Erklärungen, die der junge Mann ganz offensichtlich nicht geben konnte, und wich die ganze Zeit meinem Blick aus. Als der Arzt weg war, kam Rip und setzte sich auf die andere Bettseite, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er nahm Bens Hand und redete in einem unnatürlichen Singsang auf ihn ein, wie mit einem kleinen Kind. Ich stand auf und ging.
Ich kam bis zur Schwingtür, dann blieb ich stehen. Mir war klar, dass ich mich lächerlich aufführte. Also kehrte ich um und setzte mich erst mal in den Aufenthaltsraum, um mich zu beruhigen. Ich öffnete und schloss die Fäuste -
ein -zwei - drei - vier - aus - zwei - drei - vier-,
atmete die medizingeschwängerte Luft ein, die schwer war von all der Aufregung und der Angst, die in diesem Raum ausgestanden worden waren. Ich dachte an die Frau mit dem Tropf, unser wildes Lachen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.
Eine Minute später schwang die Tür auf und Stella kam herein. Ihr Gesicht war rot und fleckig. Erst dachte ich, sie hätte geweint; doch dann begriff ich, dass sie wütend war.
»Mum, ihr spinnt total- du und Dad - ihr müsst aufhören, euch wie kleine Kinder zu benehmen. Wir haben die Nase voll davon, Ben und ich. Wir wollen, dass ihr ... ich weiß auch nicht ... erwachsen werdet.«
Sie kaute an einer Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fiel, so wie sie es schon als Kind getan hatte. Ich starrte sie an. Sie war zwanzig Jahre alt, dünn wie eine Bohnenstange, und sie trug einen Rock, der so kurz war, dass man ihre Unterhose sah, wenn sie sich vorbeugte; ich hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher