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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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in meinem Bauch getragen und ihr die Brust gegeben, und sie sagte
mir,
ich sollte erwachsen werden?
    »Ja, aber was ist mit
ihm?«,
jammerte ich.
    »Er auch. Ihm habe ich es auch gesagt. Ihr müsst damit aufhören, alle beide.« Sie klang genau wie Mrs. Rowbottom, wenn sie mit Gavin Connolly schimpfte, weil er mit Papierkügelchen warf. »Aber er hat angefangen.«
    »Es ist egal, wer angefangen hat. Wir haben die Nase voll. Außerdem tut es Ben nicht gut.«
    Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und schaute streng.
    »Na gut. Also, wenn er aufhört, höre ich auch auf. Aber ich werde nicht ...«
    »Jetzt geh einfach da rein, und lächle ihn an, und ... ich weiß nicht ... sei einfach
normal,
Mum.«
    Ich gehorchte. Ich lächelte Rip an, und er lächelte mich an, ein bisschen schief, und er erklärte, dass er bei Pete ausziehen musste, und er hatte versucht, mich anzurufen, um Bescheid zu sagen, dass Ben früher heimkam als erwartet, aber ich hatte ihn nicht zurückgerufen. Als ihm ein anklagender Ton reinrutschte, warf Stella ihm einen warnenden Blick zu.
    »Dad!«
    Sie würde eine tolle Lehrerin werden, dieses Mädchen.
    Wenn ich überlege, was der Wendepunkt war, der Zeitpunkt, ab dem es wieder bergauf ging, würde ich sagen, es war dieser Montag im März, der Moment hinter dem Vorhang im Krankenhaus, als Ben sich aufsetzte und sich zu erinnern versuchte, was passiert war, und Stella auf seinem Bett saß und ihn durch das Laken an den Zehen kitzelte und ihn zum Lachen brachte. Ich musste an die Klebstoffmesse denken - ich und Rip zu beiden Seiten des Bettes wie sperrige, ungünstige Fügeteile und Ben und Stella in der Mitte, die uns zusammenhielten wie zwei Tropfen Klebstoff.
     
    Am nächsten Tag saßen wir zusammen im Sprechzimmer des Neurologen, Rip, Ben und ich, Ben in der Mitte. Der Neurologe ging eine Reihe von Fragen mit uns durch und erkundigte sich nach den Umständen von Bens Anfall. Als ich ihm den zuckenden Bildschirmschoner und die flackernden Flammen der Armageddon-Webseite beschrieb, erzählte er uns von einer Häufung von 685 Epilepsie-Fällen in Japan im Jahr 1997, die anscheinend alle von ein und derselben Pokemon-Folge im Fernsehen ausgelöst worden waren.
    »Fotosensibilität kann durchaus einen epileptischen Anfall auslösen«, sagte er und sah uns durch seine kleine randlose Brille an. »Im Moment können wir allerdings nicht sagen, ob es bei einem einmaligen Anfall bleibt.« Er wandte sich an Ben. Für einen Neurologen hatte er ein überraschend freches Lächeln. »Versuch ein bisschen wählerischer bei den Webseiten zu sein, die du besuchst, junger Mann. Es kann da draußen im Cyberspace ziemlich wüst zugehen.«
    »Okay.« Ben nickte. Die ganze Aufmerksamkeit war ihm peinlich.
    Doch es musste noch mehr dahinterstecken, dachte ich. Ich erinnerte mich an unser Gespräch über das Zeitenende, den gehetzten Blick in seinen Augen.
    »Ich kann verstehen, dass das Flackern des Computers etwas auslöst«, sagte ich. »Aber was ist mit ...« Ich versuchte mich zu erinnern. »Manchmal hast du gesagt, dass du dich komisch fühlst, wenn du von der Schule kamst, noch bevor du den Computer angemacht hast. Erinnerst du dich, Ben?«
    Er blinzelte und runzelte die Stirn.
    »Ja. Das ging im Bus los. Wir sind unter den Bäumen durchgefahren. Ich konnte die Sonne durch die Äste sehen.« Er beschrieb eine lange Straße, wo die niedrige Wintersonne durch die kahlen Äste der Alleenbäume flackerte, wenn er oben im Bus saß. »Da habe ich angefangen, mich so ... komisch zu fühlen.«
    »Aber wenn du bei mir in Islington warst, ging es dir immer bestens.« Ich hörte einen Vorwurf in Rips Stimme, als wäre ich verantwortlich für das Problem.
    »Da nehme ich den anderen Bus.«
    Der Neurologe nickte. »Wenn du das nächste Mal in so einer Situation bist, junger Mann, mach einfach ein Auge zu.«
     
    Das war schon alles - Generationen von Propheten, die Herrschaft des Antichrist, die Zeit der Trübsal, der Greuel der Verwüstung, Armageddon, die schreckliche Schlacht aller Armeen der Welt, der Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem, das Ende der Zeiten mit Posaunen und feurigen Streitwagen, die Rückkehr des Erlösers, die Entrückung der Auserwählten - alles ging auf eine Frequenz von flimmerndem Licht zurück, auf einen Kurzschluss in der Verkabelung des Gehirns. Und man brauchte nur ein Auge zu schließen.
    Ich war erleichtert und enttäuscht zugleich. Denn ein Teil von mir wollte glauben - wollte sich dem

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