Das Leben kleben
Irrationalen hingeben und von der Entrückung mitgerissen werden.
»Das ganze religiöse Zeug ist also Quatsch?« Rips Ton war unangenehm selbstgefällig. Ich wollte ihm einen Tritt geben, damit er den Mund hielt, doch ich sah, dass Ben gar nicht zuhörte. Er studierte die Karte der Hirnregionen, die neben dem Schreibtisch des Neurologen an der Wand hing.
»Man nimmt heute an, dass einige Propheten und Mystiker Epileptiker waren«, sagte der Neurologe. »Man geht davon aus, dass sich viele religiöse Erfahrungen physiologisch erklären lassen.«
Rip interpretierte meinen Blick falsch, beugte sich vor und nahm meine Hand. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass Ben Probleme hatte? Du hättest mit mir reden sollen, Georgie.«
»Ich ...«
Einatmen - zwei - drei - vier. Ausatmen - zwei - drei - vier.
»Du hast recht. Ich hätte mit dir reden sollen.«
Ich drückte seine Hand.
Als wir aus dem Krankenhaus kamen, fragte Rip ziemlich kleinlaut, ob er vielleicht vorübergehend wieder einziehen könnte, und ich antwortete ziemlich mürrisch, dass es mir egal wäre, aber dass es Ben sicher freuen würde. Ja, insgesamt war ich zufrieden; die Dinge entwickelten sich in die richtige Richtung. Doch ich war überrascht, dass meine Gefühle so zwiespältig waren. Denn ich hatte jetzt mein eigenes Leben, und ich war nicht bereit, es wieder aufzugeben. Rip hatte so eine Art, alles an sich zu reißen, wenn er da war. In seiner Abwesenheit hatte ich mich an all die Dinge an ihm erinnert, die ich vermisste, doch wenn ich mit ihm zusammen war, fielen mir wieder die Dinge auf, die mich an ihm störten. Mir kam der Gedanke, dass es ihm umgekehrt vielleicht genauso ging. Es gab noch so einiges, was wir klären mussten. Später am Nachmittag kam er mit seinen Sachen im Auto aus Islington und schlug sein Lager in dem kleinen Arbeitszimmer auf halber Treppe auf. Wir schlichen auf Zehenspitzen umeinander herum und waren übertrieben höflich und rücksichtsvoll.
Er: Möchtest du noch eine Tasse Tee, meine Liebe?
Ich: Das wäre nett, mein Lieber.
Diese Art von Unsinn.
Ich musste das Gästezimmer aufräumen, damit Stella, wenn sie über Ostern nach Hause kam, auch Platz hatte. Ganz unten in der Kommode fand ich einen Umschlag mit Fotos. Rip und ich an unserem Hochzeitstag: Rip trug Frack und Zylinder. Sein Haar ringelte sich über seinen Kragen und er hatte lockige Koteletten. Ich trug einen Hut mit einer riesigen Krempe und ein enges Kleid mit breiten Schultern und nuttige Stöckelschuhe. Mein schwangerer Bauch war deutlich sichtbar. Wir sahen vollkommen lächerlich aus - und lächerlich glücklich. Dann ein Foto von Rip und mir und Stella als Baby in einem Kinderwagen beim Spaziergang um den See im Roundhay Park. Dann Rip und ich mit der fünfjährigen Stella und Ben als Baby am Strand von Les Sables d'Olonne. Rip und ich und Stella und Mama zu Weihnachten in Kippax. Rip und ich mit Nikolausmützen; Mama trug ihr Rentiergeweih; Ben trug seine neuen
König-der-Löwen-
Hausschuhe und lachte breit - was für ein lustiger kleiner Junge er gewesen war; Stella - sie muss dreizehn gewesen sein - machte mit rotem Lippenstift einen Schmollmund für die Kamera; sie trug ein enges rotes Oberteil und hatte einen Lamettakranz um die Schultern drapiert. Papa war nicht auf dem Foto - wahrscheinlich hatte er die Aufnahme gemacht. Im Hintergrund sah man deutlich den Weihnachtsbaum mit den Millenniums-Kugeln. Ich sah mir die Fotos lange an, dann schob ich den Umschlag unter meine Matratze. Es schien ein gutes Omen zu sein.
Am Ende des Semesters kam Stella, und plötzlich war es kein leeres, sondern ein volles Haus. Es war Stella, die mir bei einer Tasse Tee erzählte, dass Ottoline Rip hinausgeworfen hatte. Die Nacht vor dem Krankenhaus hatte er im Hotel verbracht. Deswegen war Ben am Montag so früh nach Hause gekommen.
»Ben sagt, er hat sie streiten hören. Anscheinend hat sie ihm vorgeworfen, dass er unfähig ist, Verantwortung zu übernehmen«, murmelte sie mit ernster Stimme und senkte den Kopf, so dass ich das Grinsen um ihre Mundwinkel fast nicht gesehen hätte.
Stella kostete ihre Ferien voll aus, schlief lange und duschte lange, manchmal zweimal am Tag, wobei sie den Ausguss mit ihren langen Haaren verstopfte und das Haus mit dem Duft nach Apfelshampoo erfüllte. Ben erfüllte das Haus mit Techno-Musik, stampfte fröhlich herum und klebte nicht mehr so viel am Computer. Rip ging morgens zur Arbeit, wie früher, und abends saß er an
Weitere Kostenlose Bücher