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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Die Grübchen wurden tiefer. »Trautes Heim, Glück allein.«
    Etwas ließ mir keine Ruhe. Warum redete jeder von Heimatland? Hatte Heimat nicht viel mehr mit den Menschen zu tun, an denen man hing? Meine Heimat waren Ben und Stella - ja, und Rip. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, ein Land mehr zu lieben als sie. Ich dachte an die Frau auf den Fotos - diese dunklen strahlenden Augen, voller Überzeugung. Sie hatte ihre große Liebe zurückgelassen, um die Heimat ihrer Träume zu finden, und jemand anders - eine andere Naomi Shapiro - hatte ihren Platz eingenommen.
    »Aber ist es nicht auch Ihre Heimat, Chaim? Noch mehr als die Ihrer Mutter, da Sie dort geboren wurden? Haben Sie keine Familie? Freunde? Kollegen? Ich verstehe nicht, warum Sie nach London umziehen wollen.«
    In Ihrem Alter, meinte ich, doch ich wollte nicht unhöflich sein.
    »Ich war dreißig Jahre lang Lehrer. Englische Sprache und Literatur.« Er rutschte auf seinem Stuhl herum. »Jetzt bin ich pensioniert. Nicht verheiratet. Was für eine Frau will einen einäugigen Mann heiraten?«
    »Ach, das würde ich nicht so sehen ...« Mrs. Shapiro hätte ihn bestimmt bald unter der Haube, dachte ich.
    Sie kam mit einem schmuddeligen, an den Kanten eingerollten Pflaster zurück, das sie ihm mit einem kleinen Klaps auf die Wange klebte.
    »Jetzt ist deine Heimat bei uns, nich wahr?«
    Ich sah, dass ein paar Katzenhaare unter dem Pflaster klebten.
    »Danke, Ella. Meine Mutter hat gesagt, dass du dich während seiner Krankheit gut um meinen Vater gekümmert hast. Dass du ihn ermutigt hast, nach Israel zu gehen, sobald es ihm besser ging. Sie hat mir den Brief gezeigt, den du ihr geschrieben hast.«
    Ich sah zu Mrs. Shapiro hinüber.
    »Das ist lange her«, sagte sie. Eine undurchschaubare Regung glitt über ihr Gesicht, und sie zuckte leicht die Schultern. »Manchmal ist es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«
    »Ja, es ist lange her.« Er sank schwer in seinen Stuhl zurück. »Weißt du, Ella, dieses Land, dieses Israel, es ist nicht das Land, von dem sie geträumt hat. Es hätte ein schönes Land werden sollen - blühend, modern, demokratisch. Auf Gerechtigkeit und auf das Gesetz gegründet. Aber
die
haben mit ihrem Fanatismus alles kaputt gemacht.«
    Er nickte mit dem Kopf in Richtung Küche, wo sich Mr. Ali und die Betreuer immer noch auf Arabisch unterhielten. Kaffeetassen klirrten.
    »Wissen Sie, Miss Georgiana, kein Lehrer will das Blut von Kindern an den Händen haben. Nicht einmal das von kleinen, Steine werfenden arabischen Rotzlöffeln.«
    Doch ich hörte ihm nicht richtig zu, denn meine Gedanken waren zurückgewandert zu etwas, das er gesagt hatte, bevor Wonder Boy auf ihn losgegangen war. Tut kleines Unrecht, um ein großes Recht zu tun. Das war Bassanio aus dem
Kaufmann von Venedig.
Ich hatte es im Abitur gehabt. Aber was hatte Portia gesagt? Etwas über Gnade. Irdische Macht kommt göttlicher am nächsten, wenn Gnade bei dem Recht steht. Das war es.
    »Und was könnte Ihrer Meinung nach eine Lösung sein?«
    »Es gibt keine Lösung. Ich sehe keine Möglichkeit, dass es zu meinen Lebzeiten Frieden gibt.« Er sank noch tiefer in den Stuhl und stützte das Kinn auf die Hände. »Solange sie mit ihren Angriffen weitermachen, setzen wir unsere Verteidigung fort. Wir stecken fest, Auge um Auge, Zahn um Zahn. Für jemanden, der sensibel ist wie ich, ist es unmöglich, so weiterzuleben.«
    »Aber ... es ist nie zu spät, oder? Für Frieden? Ich meine, wenn der Wille da ist ...«
    Noch während ich sprach, dachte ich, das klang zwar gut, aber wahrscheinlich war es völliger Quatsch. Der Wille zum Frieden - sogar Rip und ich waren meilenweit davon entfernt, oder?
    »Für mich ist es zu spät, Miss Georgiana.« Er seufzte. »Denn rückwärts braust mir Tag für Tag ans Ohr der Zeiten Donnerschlag.«
    »Flügelschlag.« Ich konnte mich nicht bremsen, doch er war tief in Gedanken und hörte mich nicht einmal. Vielleicht sollte ich ihn mit Mark Diabello bekanntmachen. Sie hatten einen ähnlichen Geschmack in Gedichten.
    Als ich am frühen Abend nach Hause spazierte, sah ich, dass die silbrigen Knospen der Weide aufgegangen waren und in ihrem Pelz goldene Pollen zur Schau stellten. Die Luft war mild und feucht. Ein leichtes Frühlingsnieseln benetzte mein Gesicht und mein Haar; es glänzte auf den Blättern und fiel in trägen schweren Tropfen von den überhängenden Zweigen. Alles war kühl und grün. Es war eine andere Welt als die von

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