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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Moleküle untergefasst und gesungen hatten, war mir eine Erleuchtung zur Polymerisation gekommen. Jetzt machte ich eine noch aufregendere Entdeckung - Polymerisation hatte etwas mit Teilen zu tun. Ein Atom, dem ein Elektron fehlte, sah sich nach einem anderen Atom um, das die richtige Sorte Elektron hatte (für die chemisch Interessierten, man nennt das Kovalenz), und dann bediente sich das Atom und nahm sich das Elektron, das es brauchte. Doch es war weder Diebstahl noch Bosheit nötig. Die beiden Atome teilten sich das Elektron, und das war es, was die Atome zusammenhielt, in einem wunderschönen, sich endlos wiederholenden Tanz - die Schönheit von Klebstoff!
    Ich hatte immer noch Canaan House im Kopf und begann über die beiden Naomis nachzudenken, die beide Artem wollten. Hatten auch sie getanzt und geteilt? Oder war es bei ihnen auf Diebstahl und Bosheit hinausgelaufen? Hätte Artem sich anders entschieden, wenn er Naomis Briefe erhalten hätte? Wäre stattdessen Ellas Herz gebrochen worden? Die Briefe zu verbrennen war etwas bodenlos Verwerfliches; und doch konnte ich Ella nicht als böse Frau sehen. Es war, als gäbe einem die Liebe die besondere Lizenz, zu tun, was man wollte. Am Ende war es der Tod gewesen, diese endgültige Bruchlinie, die Ella und Artem trennte. Und auch Canaan House war Teil des Tanzes gewesen, das Haus, das sich erst ein Paar teilte und später ein anderes. Wem gehörte das Haus wirklich? Es gab immer noch Teile der Geschichte, die ich nicht verstand. Es musste einen Weg geben, Licht ins Dunkel zu bringen.
    Nach dem Mittagessen - vier Radieschen und ein halbes Bagel mit einem Stück hartem Käse war alles, was ich im Kühlschrank fand - war ich kurz oben auf dem Klo, und dabei fiel mir noch etwas auf, das an Ginas Rache nicht stimmte. Männer und Frauen - wir waren verschieden. Männer pinkelten im Stehen.
     
    Als der Regen am Nachmittag eine Pause machte, warf ich mir den Fledermausmantel über und flatterte zur Bibliothek in der Fielding Street, einer Nebenstraße der Holloway Road. Die Referenzbibliothek befand sich im obersten Stock, ein stiller Saal mit hohen Fenstern, in dem nichts als das näselnde Schniefen nasser Menschen und das trockene Rascheln von Papier zu hören war. Das Regenwetter trieb die Obdachlosen hierher, deren feuchter, ungewaschener Geruch sich mit dem Muff der Bücher und dem Aroma von Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln mischte. Schweigende gebeugte Gestalten beäugten einander verstohlen über den Buchseiten. Für Ms. Firestorm wäre es ein Fest gewesen. »Ich versuche etwas über die Geschichte eines Hauses bei uns in der Nähe zu erfahren. Es heißt Canaan House. Am Totley Place.«
    Die Frau am Informationstisch hob den Blick vom Computer. »Interessanter Name. Bei den Viktorianern war es Mode, den Häusern biblische Namen zu geben. Es gibt unglaublich viele Bethels und Zions. Und Jordan Close in Richmond. Hat natürlich mit dem Model nichts zu tun«, sie kicherte wie eine Maus.
    »Gibt es alte Stadtpläne oder so etwas?«
    »Das Archiv für Stadtgeschichte wurde in die Finsbury—Filiale verlegt. Wir haben hier nur eine kleine lokalgeschichtliche Abteilung, da drüben rechts.«
    Von den etwa zwanzig Publikationen dort hieß das einzige Buch, das sich speziell mit unserem Viertel beschäftigte,
Walter Sickerts Highbury.
Ich blätterte die Kapitelüberschriften und die Illustrationen durch. Auf Seite 79 war die Lithographie eines großen Hauses abgedruckt, vor dem ein Baum stand - je länger ich hinsah, desto überzeugter war ich, dass es dasselbe Haus war, mit derselben Araukarie, nur kleiner. Die Bildunterschrift lautete: »Das Araukarien-Haus, Heim von Miss Lydia Hughes, deren Portrait Sickert 1929 malte, als er im nahen Highbury Place lebte.« Vielleicht war das Haus umbenannt worden. Ich sah im Index nach und blätterte durch die Kapitel, doch mehr Information fand ich nicht.
    Dann fiel mein Blick auf ein schmales Bändchen mit einem Umschlag aus gelbem Karton:
Eine Geschichte christlicher Zeugnisse in Highbury.
Offensichtlich im Selbstverlag erschienen. Ich nahm es mit in den Lesesaal und setzte mich an einen der Tische. Das Büchlein bestand zum großen Teil aus einer ziemlich langweiligen Liste von anglikanischen und katholischen Kirchen mit dilettantischen Zeichnungen, und das letzte Kapitel war dem gewidmet, was der Autor als »Sekten« bezeichnete: Methodisten, Baptisten, Kongregationisten, Quäker, Unitarier, Presbyterianer,

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