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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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schmächtige Frau, die sich als Mrs. Browns Nichte Lucille Watkins vorstellte, und ihr Vater, Mrs. Browns Bruder. Er war groß und schlank, mit rosigen Wangen und einem Glitzern in den Augen - einer dieser drahtigen, fitten Neunzigjährigen, die noch ewig so weitermachen konnten.
    »Charlie Watkins«, stellte er sich vor und beugte das Gesicht tief über Mrs. Shapiros abgeblätterten Nagellack, als sie ihm anmutig die Hand reichte. »Ich glaube, wir sind uns im Krankenhaus begegnet. Kannten Sie unsere Lily gut?«
    Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Nathans Tati die Borsten aufstellte.
    »Nicht sehr gut«, gab Mrs. Shapiro zurück und klimperte mit den Wimpern. »Nur vom Rauchen. Und von den Hausschuhen. Sie hat sich die Slipper der toten Frau geschnappt.«
    »Hat geraucht wie eine Lokomotive!«, sagte Charlie Watkins glucksend und nickte zu dem mit Blumen geschmückten Sarg hin. »Das klingt ganz nach unserer Lily.«
    Ich war nicht überrascht, dass auch Ms. Baddiel auftauchte, kurz bevor der Gottesdienst begann.
    »Es ist immer so traurig, wenn eine unserer Seniorinnen stirbt«, murmelte sie und suchte in ihrer riesigen Handtasche nach einem Päckchen Taschentücher.
    Inzwischen spielte in der Kapelle Musik, eine gespenstische Orgelmusik vom Band, die einem das Gefühl gab, man wäre schon so gut wie in der anderen Welt. Der Sarg mit dem Lilienkranz stand auf einem Katafalk links vom Altar. Eine Plakette an der Wand erinnerte uns feierlich:
Mors janua vitae.
Der Tod ist das Tor zum Leben. Wo hatte ich das schon einmal gehört? Hohe Fenster filterten das Sonnenlicht, das von draußen hereinfiel, und verwandelten es in eine kühle, grünliche Flüssigkeit. Ich musste an Muscheln denken, die tief unten im Meer an den Felsen klebten.
     
    Wir verteilten uns auf den Bänken und versuchten nach mehr auszusehen als nur sieben. Mrs. Shapiro saß vorne, und Nathans Tati bezog den Posten neben ihr. Nathan und Ms. Baddiel setzten sich in die erste Reihe auf der anderen Seite. Der Bruder und die Nichte breiteten sich in der Mitte aus, und ich saß hinten. Wie traurig, dachte ich, nur sieben Leute bei der eigenen Beerdigung, von denen man zwei nie gesehen hatte. Ein hagerer Mann im schwarzen Anzug leierte eine kurze Ansprache herunter und verschwand. Wir sahen uns um und fragten uns, ob das schon alles war. Dann ertönte ein Knistern hinter uns; die Orgelmusik brach mitten im Akkord ab und wurde von einer fröhlichen, trällernden Bigband-Nummer abgelöst. Ba-doop-a-doop! Ba-doop-a-doop!
    Man konnte hören, wie alle nach Luft schnappten. Charlie Watkins stand auf und vollführte einen Hüftschwung in der Kirchenbank, dann zwängte er sich an seiner Tochter vorbei und trat, sich im Takt der Musik wiegend, ans Rednerpult. Als die Musik leiser wurde, räusperte er sich und begann.
    »Verehrte Damen und Herren, wir haben uns heute hier versammelt, um das Leben einer großen Lady zu feiern, und einer großen Tänzerin: Lily Brown, meine Schwester, die 1916 als Lillian Ellen Watkins in Bow das Licht der Welt erblickte. Sie war die jüngste von drei Schwestern und zwei Brüdern.« (Er las von einem Zettel ab, den er aus der Jacke gezogen hatte, und modulierte seine Stimme wie ein Schauspieler.) »Jetzt bin ich der Einzige, der noch übrig ist, und die Vergangenheit, all das Glück und das Leid, die Triumphe und die Enttäuschungen, wurden weggespült vom Strom der Zeit.« Er kramte nach einem Taschentuch. Ein Raunen ging durch die Bankreihen. Mit so etwas hatten wir nicht gerechnet. Er schnäuzte sich die Nase und fuhr fort. »Schon als kleines Mädchen hat unsere Lily getanzt wie ein Engel.«
    Die Watkins waren vom Variete. Charlie erzählte, wie Lily Tanzunterricht nahm, schwanger wurde, nach Southend durchbrannte und ein Jahr später nach London kam, ohne das Kind und ohne den Freund. Der Durchbruch gelang ihr, als sie einen Platz bei der Tanztruppe im Daly's Theatre bekam. Er hielt inne und schniefte in sein Taschentuch - nicht geschauspielert, seine Gefühle waren echt -, dann beugte er sich vor und wich von seinem Skript ab.
    »Ich hab sie auf der Bühne gesehen, wie sie die Beine in die Luft geworfen hat, als wollte sie einer Giraffe in den Hintern treten.«
    Ich sah, dass Ms. Baddiel in der ersten Reihe bebte wie Gelee und sich die Augen abtupfte, während Nathan fürsorglich den Arm um sie legte. Etwas an dieser Geste versetzte mir einen Stich der Sehnsucht - nicht nach Nathan, das war lange her, sondern nach der Wärme von

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